Christlich 01.01.2023

Wunsch zum neuen Jahr: Geduld, Kraft und Gottver­trauen

Der «Wurzelsepp in Lichtensteig» an der Hauptstrasse Richtung Wattwil – wer im Toggenburg kannte ihn nicht? Oder wusste wenigstens, wo er wohnte.

Von Philipp Hautle
aktualisiert am 01.01.2023

Vor seinem Haus standen oder lagen jahrein, jahraus geschnitzte Wurzeln. Mannshoch manchmal. Und in Spiegelschränken reihenweise geschliffene Steine. Nun ist er längst gestorben.

Eines Tages bat er mich um einen Hausbesuch. In der Stube zeigte er mir sein Hochzeitsgeschenk an seine Frau: Eine wunderschön geschnitzte Schatulle für die Hausbibel. Er erzählte: Wenige Monate nach der Hochzeit erkrankte seine Frau und musste in eine psychiatrische Klinik übersiedeln. Sie konnte diese nie mehr verlassen. Und blieb dort – mehr als 20 Jahre – bis zu ihrem Tod. Reden konnte sie nicht mehr.

Josef besuchte sie fast täglich. Bis zu ihrem Tod.

Um mit seinem Schmerz fertig zu werden, habe er begonnen, in der Thur Steine und Schwemmholz zu sammeln. Daheim schliff er sie; dabei entdeckte er die riesige Vielfalt an Steinen. Mit der Zeit kannte er sie alle. Von Granit bis Sandstein. Aus dem Schwemmholz holte er Figuren heraus. Er verschenkte sie; später eröffnete er ein Geschäft. Für die geschliffenen Steine zimmerte er Spezialschränke mit Schubladen; darin ordnete er die Steine und beschriftete sie. Auf seinen Tischen lagen Dutzende von Fotos. Er hatte sich früh einen Fotoapparat gekauft und hielt viele Wunder der Natur fest. Er hinterliess mehr als 9000 Dias.

Während er mir erzählte und dabei seine Schätze zeigte, stellte ich mir vor, wie viele Stunden er an der Schleifmaschine gestanden und mit seinen Schnitzmessern seine Figuren geschnitzt hatte. Und was ging wohl in seiner Seele vor, wenn er nach seinem Besuch der lieben Frau unten an der Thur Holz und Steine sammelte?

Zum neuen Jahr wünsche ich Ihnen und mir diese Geduld, diese Kraft, dieses Gottver­trauen, mit dem Leid, mit dem Schmerz, mit dem Schicksal, mit den Enttäuschungen umzugehen. Der «Wurzelsepp» bleibt mir unvergessliches Beispiel.

Philipp Hautle
Rebstein