In den Sommerferien kann man im Rheintal die Beobachtung machen, dass manche Kirchen ihr Angebot an Gottesdiensten reduzieren. Viele sind im Urlaub irgendwo. Manche geniessen die Ferien daheim. Etliche arbeiten auch einfach wie gewohnt weiter. Das überrascht nicht. Mit einem halben Dutzend Gläubigen kann man keine Kirche füllen. Es gibt viele Gründe, warum Gläubige dem Gottesdienst fernbleiben: die Kirche im Allgemeinen, die Langwierigkeit, der jeweilige Seelsorger, die Uhrzeit, die Sprache oder die Musik. Manche dieser Gründe werden vorgeschoben. Mancher könnte genauso gut den Sport, das Haustier oder das frische Brot nennen, die uns gleichermassen am Sonntag in der Frühe das Bett verlassen lassen. Gott und Gemeinde haben in der Tat viel Konkurrenz bekommen. Ihr, der Gemeinde, tut es gut, ihn, Gott, als guten Grund nach vorne zu schieben. Interessanter erscheint mir allerdings, warum Menschen den Gottesdienst denn besuchen. Sitze ich während einer Messe in einer Kirchenbank, so frage ich mich gelegentlich, warum dieser oder jener gekommen ist. Ich habe – damals noch als Jugendlicher – in den 80er-Jahren oftmals ein Argument gehört, warum Menschen in den Gottesdienst gehen: «Die gehen, um gesehen zu werden.» oder «Die gehen, weil sie sich für etwas Besseres halten.» oder «Die gehen auch nur, weil sie es nötig haben.» Was immer man von solchen Äusserungen halten mag, was für Erfahrungen oder Beobachtungen dahinter sich verbergen, heute hört man diese kaum noch. Heute führt der Sozialdruck nicht dazu, dass man hingeht, sondern dass man nicht mehr hingeht. Und selbst wenn man solche Aussagen vernimmt, so fragt man sich doch, wie lange es bereits her ist, dass die passende Erfahrung dazu gemacht wurde. Manches Vorurteil einer heutigen Generation wurde geboren durch die Erfahrung der vorherigen Generation, nicht aber durch eigene Erfahrung. Mittlerweile mache ich eine andere Erfahrung, wenn ich sehe, welche Menschen den Gottesdienst besuchen. Da gibt es sehr viele Suchende und Leidende. Manche kommen, weil sie jemand anderen begleiten. Je länger ich in der Seelsorge arbeite, desto stärker gewinne ich den Eindruck, dass die meisten Kirchgänger einen konkreten Grund haben, warum sie kommen: Fragen, die einen nicht loslassen, Ereignisse, die einen geprägt haben, oder häufig ein Schicksal, das man eher schlecht als recht mit sich herumträgt. Einige kommen aus tiefstem Glauben an Gott. Andere hat das Vertrauen an den Höchsten ihr Leben lang begleitet. Fast immer sind es aber biografische Gründe: Irgendwo, irgendwann im Laufe eines Lebens gibt es einen Punkt, der mich hat glauben oder wenigstens hoffen lassen. Eigentlich geht es immer um etwas Bestimmtes aus dem eigenen Leben. Wenn diese Beobachtung stimmt, dann mag man es immer noch schade finden, wenn Gottesdienste reduziert werden oder die Kirche sich nur noch selten füllt. Aber dann wird man auch sagen können, dass die Gründe, um zum Gottesdienst zu gehen, heute ehrlicher, authentischer, persönlicher und biografischer geworden sind als in den 80er-Jahren.Carsten WolfersDiakon in Balgach