Interview 02.06.2023

Quarterlife-Crisis: Warum junge Menschen in ihren 20ern eine Sinnkrise haben

Noch vor der Midlife-Crisis kommt die Quarterlife-Krise. Doch was hat es eigentlich damit auf sich? Wir haben nachgefragt.

Von Cassandra Wüst
aktualisiert am 02.06.2023

Was kommt nach der Lehre oder dem Studium? Will ich in meiner Beziehung den nächsten Schritt wagen oder lieber reisen? Was früher die Midlife-Crisis mit Anfang 50 war, ist heute die Quaterlife-Crisis mit Mitte 20. Die Identitätskrise junger Erwachsener geht derzeit viral. Auf Tiktok hat der Hashtag «Quaterlife Crisis» bereits über 340 Millionen Aufrufe. Wir haben mit Janine Stieger, Coach und Beraterin aus Rebstein, über das Phänomen gesprochen. Im Interview erklärt sie, wie sich die Krise bemerkbar macht und was man dagegen tun kann.

Warum geraten viele Menschen bereits mit Mitte zwanzig in eine Krise?

Janine Stieger: Es ist der Sprung ins Erwachsensein, der vielen Angst macht. Sie haben ihre Ausbildung oder ihr Studium abgeschlossen und ihre Kindheit ist endgültig vorbei. Jetzt steht ihnen alles offen und sie sind unabhängig. Sie müssen sich zum ersten Mal mit sich selbst auseinandersetzen. Eine Suche nach Sinn und Selbstfindung. Sie sind von der Vielfalt überwältigt und wollen nichts verpassen.

Ist die Quaterlife-Crisis ein neueres Problem?

Nein, sie hat nur einen neuen Namen bekommen. Die Fragen, wer bin ich und wo will ich hin, gab es schon immer, aber die Pandemie und vor allem die sozialen Medien haben die Krise angeheizt.

Weshalb?

Der ständige Vergleich und das rund um die Uhr setzt vielen zu. In den sozialen Medien wird immer alles schön dargestellt, allen geht es gut, sie können sich ständig Ferien leisten und sie haben den besten Job. Viele beginnen sich zu fragen, warum sie sich das nicht leisten können oder warum sie das alles ver­passen.

Was kann ich dagegen tun?

Detox. Raus in die Natur und beim Spazierengehen, Wandern oder Velofahren den Kopf durchlüften – ohne Handy und Ohrstöpsel. Oder mit Freun­den losziehen und in Vereinen aktiv sein, damit du einen guten Ausgleich findest.

Wie äussert sich eine Quarterlife-Crisis?

Oft bemerken die Betroffenen sie nicht von Anfang an. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt, aber sie wissen nicht, was. Im Grunde hat jeder seine kleineren und grösseren Krisen. Aber es gibt Menschen, die so festgefahren sind, dass sie nicht mehr weiterkommen. Und wenn weder Freunde noch die Mutter, noch der Götti helfen können, sollte man sich unbedingt Hilfe holen von einem Arzt oder einem Psychologen.

Oder bei einem Coach wie dir. Wie sieht deine Arbeit mit den Betroffenen aus?

Es ist Hilfe zur Selbsthilfe. Oft ist der Ursprung eines Problems mit einem verdrängten Ereignis in der Kindheit verbunden, zum Beispiel Mobbing in der Schule oder Druck, den man sich auferlegt. Meine Aufgabe ist es, dies zu ergründen und Schicht für Schicht aufzulösen, um ihnen wieder ein Ziel zu geben und ihnen zu helfen, ihre Lebensfreude zurückzugewinnen. Oder um ihnen aufzuzeigen, was sie wirklich wollen.

Janine Stieger ist seit mehreren Jahren als Coach und Beraterin tätig und hat in Rebstein ihre eigene Praxis.
Janine Stieger ist seit mehreren Jahren als Coach und Beraterin tätig und hat in Rebstein ihre eigene Praxis.
Bild: pd

Welche Auswirkungen kann die Krise haben?

Es gibt verschiedene Aspekte. Zum einen psychische Symp­tome wie Panikattacken oder Angstzustände. Oder körper­liche Symptome, wenn man nicht mehr gut schlafen kann, depressive Phasen hat, Herzklopfen, Magenschmerzen oder auch extrem müde ist. Oder soziale Symptome wie sich zurückziehen. Nicht zu Verabredungen mit Freunden gehen, kurzfristig absagen oder nicht mit der Familie zu Abend essen.

Sind Frauen gleichermassen betroffen wie Männer?

Ja. In den letzten Jahren kommen auch immer mehr Männer zu mir und bitten um Hilfe.

Wie lange dauert der Prozess?

Das ist sehr unterschiedlich. Aber wichtig ist: Es geht da­rum, in Bewegung zu kommen. Wer etwas verändern will, bei dem passiert auch etwas. Auch kleine Schritte sind am Anfang sehr wichtig.

Gibt es einen SOS-Soforttipp?

Erstellt eine Notfallliste. Mach dir an einem guten Tag eine Liste mit Dingen, die dir heute gut getan haben. Zum Beispiel Musik hören, Kochen, ins Fitnessstudio zu gehen oder mit der Freundin eine Pizza zu essen. Meistens ist es nur die Überwindung, dorthin zu gehen, aber hinterher merkt man, dass es einem hilft.