Altstätten 14.11.2022

Morgensterns Reime, gesungen: Makaber, humorvoll, grossartig

Im Diogenes-Theater präsentierte der Altstätter Konzertzyklus Christian Morgensterns «Galgenlieder».

Von Max Pflüger
aktualisiert am 14.11.2022

Drei geniale Macher haben zum grossen Erfolg des Liederabends des Konzertzyklus Altstätten im Diogenes-Theater beigetragen. Zuerst einmal Christian Morgenstern (1871 – 1914). Mit seinen witzig bis schaurigen Texten und grossartigen Wortbildern hat der Dichter die «Galgenlieder» gestaltet. Den feinsinnigen Humor und die spezielle Sichtweise des Poeten hat der Komponist Enrico Lavarini (mit Veroneser Wurzeln, geboren 1948 in der Schweiz) aufgenommen und in passenden Tonbildern zu bisweilen geheimnisvollen Klangwolken verwoben.

Schliesslich war da der Oberrieter Bariton Samuel Zünd, der mit kabarettistischer Spielfreude die Gedankenwelt des Dichters und des Komponisten übernommen und für das Publikum erlebbar interpretiert hat. Vir­tuos begleiteten Emil Scheibenreif, Klarinette, Violine und Saxofon, und Nilgün Keles, Piano und Akkordeon, den Sänger.

Bis zur kompletten Auflösung der Sprache

Morgenstern hatte eine Reihe von formal und inhaltlich kindlich anmutenden, sprachspielerischen Gedichten geschrieben, die bereits nach der ersten Veröffentlichung im Jahr 1905 auf grosse Begeisterung stiessen. Ihr Motto: Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.

 Von der Literaturkritik wurden diese Gedichte wegen ihres oft kindlichen Ausdrucks lange Zeit unterschätzt.

Die «Galgenlieder» geben sich harmlos, sind aber von doppelbödiger Natur.

So besteht etwa «Das grosse La-lu-la» aus vordergründig sinnlosen, aber lyrisch und formal konsequent geordneten Silbenketten. Die komplette Auflösung der Sprache findet Morgenstern dann in «Fisches Nachtgesang», der nur noch aus Längen- und Kürzezeichen besteht. Im bekannten Gedicht «Der Lattenzaun» wird ein Haus allein aus dem - einem Zaun entnommenen - «Zwischenraum» gebaut. Seine durch ein anderes Gedicht schreitenden Sprachgeschöpfe sind legendär: die Kamelente, der Süsswassermops, die Tag­tigall, der Pfauenochs oder der Menschenbrotbaum.

Ein ehemaliger Schimpfoniker

Die Texte fordern den Sänger heraus. Samuel Zünd hat diese Herausforderung angenommen und nicht zuletzt Dank seiner Erfahrungen als Mitglied der ehemaligen Altstätter Ka­barettgruppe «Schimpfoniker» bestens bestanden. Herrlich ist seine grossartige Mimik und seine sparsam eingesetzte, aber ins Schwarze treffende Gestik.

Zünd gestaltet die Stimmungen präzise: Schrecken, Schmerz, Liebe, Nachdenklichkeit.

Grossartig sind zum Beispiel seine spitzen Mäulchen und seine dicken Pustebacken im tonlos gesungenen «Nachtgesang der Fische», zu dem ihn Nilgün Keles mit klanglos gespieltem Akkordeon ein- und ausatmend begleitet. Hervorragend zeichnet das gesungene Stakkato mit betonten Pausen zwischen jeder Silbe des Textes lautmalerisch die Zwischenräume des Lattenzauns nach.

Das Publikum, darunter auch der persönlich anwesende Komponist, genoss den makaber humorvollen Abend mit grossem Vergnügen.