01.10.2021

Integrationsklasse an der OMR: Die Gruppe regt zum Reden an

Die OMR führt eine Integrationsklasse für fremdsprachige Jugendliche. Ein Klassenbesuch zeigt, wie sie lernen.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Der Dienstag vor den Herbstferien ist ein gewöhnlicher Unterrichtstag in der Oberstufe Mittelrheintal (OMR). In den Räumen im Schulhaus am Kirchplatz sind die Schülerinnen und Schüler klassenweise in ihren Stoff vertieft. Sie bilden eine feste Gruppe, ihre Gspänli gehören demselben Schuljahrgang an.In einem der Schulzimmer ist das anders. Die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse sind nicht gleich alt. Die jüngsten besuchen die Primarschule, die anderen gehören der ersten bis dritten Oberstufe an. Die Jugendlichen haben etwas gemeinsam, das sie in dieser Gruppe zusammengeführt hat. Sie sind nicht in der Schweiz geboren und haben eine andere Muttersprache als Deutsch. Ihr Weg hat sie vor Kurzem oder gerade erst ins Mittelrheintal geführt. Bevor es zu ihrer zweiten Heimat werden kann, lernen sie in der Integrationsklasse die hiesige Sprache und das Schweizer Schulsystem erst kennen. Ihre Schulkollegen hingegen sind langsam hineingewachsen.Die Vergangenheitsform richtig ausdrückenDie Integrationsklasse ist ein neues Projekt der OMR. Lehrerin Adelheid Breu hat die Jugendlichen auf den Besuch der Journalistin vorbereitet und ihnen die kürzlich mit dieser Zeitung erschienene Lehrlingsbeilage gezeigt. «Eine Schülerin hat ihren Bruder erkannt, der gerade eine Ausbildung begonnen hat», sagt Adelheid Breu. Andere erkannten einige Gesichter, die bis zum Sommer auf ihre Schule gingen.[caption_left: Adelheid Breu, Lehrerin der OMR-Integrationsklasse, sagt: «Sie lernen in der kleinen Gruppe Deutsch zu sprechen und unterhalten sich über soziale Themen.»]Die Lehrerin bittet die Schülerinnen und Schüler, zu erzählen, was sie am Vortag gemacht haben. Fast nebenbei lernen sie, Verben in die Vergangenheitsform Perfekt zu setzen: Anastasia hat auf dem Sofa gesessen. Saron hat ihr Zimmer geputzt. Furkan hat Kartoffeln gekocht. Als die Schüler die Kurzsätze aufschreiben, markieren sie die Verben und verstehen: Im Perfekt sind es immer zwei.Breus Ziel ist es, mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam einen möglichst problemlosen Einstieg in das Schweizer Schulsystem zu gestalten. «Sie lernen in der kleinen Gruppe Deutsch zu sprechen und unterhalten sich über soziale Themen», sagt sie. Um sich zu integrieren, genüge es nämlich nicht, sich die fremde Sprache zu eigen zu machen. Dies gelte für Umgangsformen und Anstandsregeln ebenso wie für Brauchtum und Verhaltensnormen.«Treten Lerndefizite zutage, bietet diese Gruppe einen geschützten Rahmen, um Lücken aufzuarbeiten», sagt Adelheid Breu. «In einer Regelklasse ist das nicht gleich gut möglich. Je mehr die Jugendlichen in der Integrationsklasse Halt und Sicherheit gefunden haben, desto besser finden sie sich in ihrer Stammklasse zurecht.» Anfangs werden sie morgens in der Kleingruppe und nachmittags in der Stammklasse beschult. Die Grenzen werden immer weiter gezogen, bis der einzelne Jugendliche für den vollständigen Übertritt bereit ist.Grammatik ist wie der Keller eines HausesDie Schülerinnen und Schüler haben sich um einen Tisch versammelt. Auf ihm liegen Lernkarten. Kurze Sätze und ein Bild beschreiben eine simple Handlung. Die Schüler kleiden sie nacheinander in Worte. Es entwickelt sich ein Gespräch da­rüber, wie sie Artikel und Begleitwörter richtig anwenden. «So ist Grammatik», sagt Adelheid Breu. «Das Erlernen einer Sprache vergleiche ich mit ei­nem Hausbau.» Der Keller sei das Fundament eines Hauses wie die Grammatik das einer Sprache. «Je mehr Stockwerke ihr gebaut habt, desto besser sprecht ihr eine Sprache.»Anastasia bewegt ihre Arme kreisförmig nach oben und un­ten. «Ich fahre mit dem Zug», sagt eine andere Schülerin. Sie hat aus der Pantomime eine Handlung abgeleitet und den richtigen Satz dazu formuliert. Christina läuft durch das Schulzimmer und imitiert, wie sie eine Lenkstange bewegt. «Ich fahre mit dem Velo», ruft eine weitere Schülerin. Die Schüler verknüpfen Gesehenes mit der Sprache und drücken sich aus. Diese Fertigkeit benötigen sie im Alltag.Die Idee, in der OMR eine Integrationsklasse für fremdsprachige Schülerinnen und Schüler einzurichten, hatte Schulleiter Markus Wa­-ser vor fünf Jahren. Der Ent­-wurf schlummerte seither in der Schublade, denn es gab nicht genug potenzielle Schülerinnen und Schüler. Stattdessen besuchten fremdsprachige Jugendliche acht Wochen lang einen externen Deutschkurs. Mit der OMR hatten sie kaum etwas zu tun. Erst nach Kursende traten sie in die Regelklasse ein. «Sie liefen mehr schlecht als recht mit», sagt Waser. Das sei sowohl für Schüler als auch Lehrper­sonen belastend gewesen. «Die Lehrer konnten machen, was sie wollten. Sie standen immer im Spannungsfeld, entweder den einzelnen Schüler oder die Gruppe zu vernachlässigen.»Unter Umständen noch nie eine Schule besuchtNach dem Lockdown im Frühling 2020 traten drei Schüler in die OMR ein. Niemand von ihnen sprach Deutsch. «Ich musste handeln und kontaktierte Adelheid Breu», sagt Markus Waser. Sie ist eine erfahrene Deutschlehrerin für Fremdsprachige, hatte Kapazität und sprang ein. Zunächst unterrichtete Breu die drei Neuankömmlinge, inzwischen besuchen neun Jugendliche die Integrationsklasse. Jeder hat eine andere sprachliche Voraussetzung oder unter Umständen noch nie eine Schule besucht.  Vom ersten Moment an ein OMR-Schüler seinAn diesem Modell ist neu, dass die Schüler von Beginn an der OMR angehören. Sie besuchen morgens drei Deutschlektionen bei der OMR-Lehrerin in einem OMR-Schulzimmer und nachmittags sind sie in ihrer Stammklasse. Sie schnuppern Klassenluft und nehmen an Schulanlässen teil. «Das hat vor allem einen sozialen Aspekt», sagt Markus Waser. «Eine Schülerin, die mit ihren Kolleginnen den Turnunterricht besuchen wollte, gab uns den Anstoss.» Seither verläuft der Übergang von der Integrations- in die Stammklasse fliessend und individuell. Adelheid Breu pflege einen engen Kontakt zu den Lehrern und ermögliche somit erst den Prozess, sagt Markus Waser. «Das Ziel ist, frisch eingereiste Jugendliche – Flüchtlinge oder aus Familiennachzug – aufzufangen, sie Deutsch zu lehren und sie so weit zu integrieren, dass sie mit höchstens ei­nem Jahr Verspätung eine Berufsausbildung starten.»Markus Waser verfolgt das Ziel, die Integrationsklasse fix einzurichten. Der Schulrat hat bereits zugestimmt, den Versuch aus dem Frühjahr 2020 um ein Schuljahr zu verlängern. Bis Sommer 2022 werden der Schulleiter und Adelheid Breu dem Schulrat ein Konzept vorlegen. Enthalten sein soll, dass die Integrationsklasse auch anderen Schulgemeinden der näheren Umgebung offensteht. «Die Spanne sollte maximal fünf Jahrgänge breit sein», sagt Waser. (vdl)