Ein bisschen ein mulmiges Gefühl habe ich schon, als ich vor der Tür zur Naturheilpraxis von Renata Hoffmann in Wolfhalden stehe. Schliesslich gebe ich gleich die Erlaubnis, dass Würmer mich aussaugen. Ihre kleinen Zähnchen in mein Fleisch rammen und mich anzapfen wie eine Tanksäule und mein Blut aufsaugen. Aber ich bin auch neugierig. Kann die Therapie tatsächlich bei Verspannungen helfen? Wird sich mein Nacken danach besser anfühlen oder vielleicht sogar beschwerdefrei sein? Es ist den Versuch wert, also trete ich ein.
In der hellen Neubauwohnung sehe ich an einer Wand unzählige Kräuter in weissen Kisten, darunter Lavendel. Der Raum ist in der Mitte durch einen Raumteiler getrennt. Auf der linken Seite befindet sich die Behandlungsecke, rechts davon in kleinen Glasschalen die Blutegel, die sich im Wasser schlängeln. Ein wenig unheimlich, denke ich. Renata Hoffmann bemerkt:
Es überrascht mich, dass Sie sie ansehen. Viele ekeln sich vor ihnen und möchten sie vor der Behandlung lieber nicht sehen.
Ich wusste nicht, dass das eine Option war, aber es ist okay für mich. Schliesslich kann ich ihnen bei ihrer «Arbeit» nicht zusehen. Sie werden ja an meinem Nacken befestigt.
Renata Hoffmann führt mich in den Behandlungsbereich. Sie ist eine ausgebildete Naturheilpraktikerin und hat sich als eine der wenigen in der Region auf die Blutegeltherapie spezialisiert. Vor der Liege steht ein Stuhl, der an eine Massagepraxis erinnert, mit Kopfstütze und Halterungen, auf denen ich meine Arme ablegen kann. Als ich auf meine Kleidung schaue, merke ich, dass ich am Morgen wohl noch nicht ganz wach war – ich trage ein weisses T-Shirt, was nicht gerade praktisch ist, wenn es um Blut geht.
Ich ziehe es aus und nehme auf dem Stuhl Platz. Frau Hoffmann legt mir ein Wärmekissen auf die Schultern. «Blutegel haben es zum Anbeissen gerne warm», sagt sie. Ansonsten lieben die Egel es eher kühl. Und damit sie besser beissen, durfte ich 24 Stunden vorher nicht mehr mit Duschmittel duschen. Deo war auch nicht erlaubt, eincremen sowieso nicht. Darauf reagieren Blutegel empfindlich.
Die Expertin hat die kleinen Blutsauger vor der Anwendung kalt abgespült, um ihre Bissfreudigkeit zu steigern. Renata Hoffmann erklärt:
Manchmal dauert es eine Weile, bis sie beissen. Je wärmer es ist, desto lieber beissen sie.
Sie setzt den den ersten Blutegel auf meinen Nacken. Ich spüre etwas Kaltes und Glitschiges, das sich am Nacken schlängelt.
Es schaudert mich. Dann folgt ein kurzer Schmerz, als der Blutegel zubeisst. Ähnlich dem Gefühl, wenn man von einer Brennnessel gestochen wird. Der Impuls, zu kratzen und den Fremdkörper zu entfernen, überkommt mich, aber ich ignoriere ihn. Denn, man darf niemals einen Blutegel gewaltsam entfernen, weil die Gefahr besteht, dass der Egel erbricht. «Oder er reisst und seine Zähne bleiben stecken und könnten eine Infektion verursachen.»
200 Milliliter Blut in eineinhalb Stunden
Die Prozedur geht von vorne los. Insgesamt haben sich nun sechs Blutegel an mir festgesaugt. Das anfängliche Brennen lässt nach. Renata Hoffmann bedeckt meinen Rücken und legt mir ein Tuch über die Schulter, da Blutegel es dunkel mögen, wenn sie essen. «Klar, denke ich, macht’s euch gemütlich.» Renata reicht mir einen Tee, das wärmt von innen – hilft meinem Kreislauf und verstärkt den Appetit meiner kleinen Freunde. Ich spüre deutlich, wie sie saugen. Nicht schmerzhaft. Nur unangenehm. Und etwas eklig. Zum Glück muss ich ihnen beim Essen nicht zusehen.
Es dauert keine Stunde, als ich spüre, wie der erste Blutegel abfällt, vollgesogen in einer Art Foodkoma. Renata nimmt ihn ab und steckt ihn in eine durchsichtige Dose. «Siehst du den Kopf?», fragt sie mich. Der Blutegel ist auf das Fünffache seiner Grösse angeschwollen. Vollgesaugt mit etwa 10 bis 15 Milliliter Blut. Meinem Blut. Renata Hoffmann sagt:
Je nach Anzahl Egel und der Intensität des Nachblutens kann man ein paar wenige Deziliter Blut verlieren.
Fröhlich bewegt er sich wie eine Raupe in der Dose. Wenig später folgen seine Kollegen.
Nach dem Essen direkt in den Gefrierschrank
Die Blutegel bezieht Renata Hoffmann von Hirumed, der einzigen Zuchtfirma in der Schweiz, aus Bronschhofen bei Wil. Mit nur wenigen Mausklicks können die Blutegel online gekauft werden. Bis 11 Uhr bestellt, werden sie am nächsten Tag geliefert. «Die Zucht der Blutegel ist sehr aufwendig», erklärt Renata Hoffmann. Vom Ablegen der Kokons bis zum Schlüpfen der kleinen, ein bis zwei Zentimeter langen Jungtiere können, je nach Temperatur, einige Wochen oder sogar Monate vergehen. Die Geschlechtsreife erreichen sie nach vier Jahren. Zur Therapie werden zwei- bis dreijährige Egel eingesetzt.
Ich spüre, wie das Blut über meinen Rücken fliesst. «Das ist völlig normal», versichert sie mir. Auch das Wasser, das die Blutegel ausscheiden, mischt sich mit der roten Flüssigkeit. Die Bissstellen, die wie klei- ne Mercedes-Sterne aussehen, können noch bis zu 24 Stunden nachbluten, wird mir gesagt. Die Einbissstellen sind deutlich sichtbar.
Als der letzte Blutegel von mir ablässt kommen die Egel in den Gefrierschrank. So werden sie getötet. Sie gelten danach als Sondermüll und sind entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen zu entsorgen. Hoffmann erklärt:
Blutegel dürfen nur einmal für eine Behandlung am Menschen verwendet werden und müssen anschliessend entsorgt werden.
«Rentnerteiche», wie sie in Deutschland für Blutegel existieren, die in den Ruhestand gehen, sind in der Schweiz verboten. Der Grund: Die mitteleuropäischen Blutegel sind fast ausgestorben und daher streng geschützt. Die Egel aus dem Handel stammen von einer anderen Art als unsere schweizerischen und deutschen Egel. Aus diesem Grund und um die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern, ist es gesetzlich verboten, Blutegel auszusetzen.
Das mag etwas makaber erscheinen, aber zumindest weiss ich, dass sie mit vollem Bauch sterben. Und das ist doch immerhin beruhigend, oder nicht? Die Müdigkeit überkommt mich. Ich gähne ununterbrochen, mein Kreislauf macht schlapp. Das sei völlig normal, versichert mir Renata Hoffmann. Jeder Körper reagiere unterschiedlich auf die Behandlung. Und obwohl ich bei Blutspenden, wo ein halber Liter abgezapft wird (hier lediglich um die 200 Milliliter) ständig zu tun habe, habe ich meine Mühe. Das liegt am Sekret, das die Blutegel ausstossen.
Wirkungsvoll bei Krampfadern und Arthrose
Die Blutegeltherapie lindert Schmerzen, fördert die Durchblutung, hemmt Entzündungen, stärkt das Immunsystem, entwässert und entgiftet. Die Naturheilpraktikerin sagt:
Sie ist oft die letzte Rettung nach vielen verschiedenen Ansätzen, jedoch kein Wundermittel, das versäumte Behandlungen in einer einzigen Sitzung rückgängig macht.
Das Geheimnis des Therapieerfolgs liegt im Speichelsekret der Tiere. Während des Saugens geben die Blutegel unter anderem gerinnungshemmende und entzündungshemmende Wirkstoffe ab. Das Sekret führt zu einer verbesserten Fliessfähigkeit des Blutes und kann so zum Beispiel Thrombosen vorbeugen. Sehr wirkungsvoll ist die Behandlung bei Arthrose und Krampfadern. Zudem bedeutet jede Blutegelbehandlung einen kleinen Blutverlust, der den Körper zur Neubildung von Blut anregt und das Immunsystem stärkt.
Eineinhalb Stunden Behandlung: 400 Franken
Mein Nacken wird dick eingebunden. Wie Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame sehe ich aus, als ich mir das T-Shirt drüberziehe. Von Renata Hoffmann erhalte ich einen Jute-sack mit Verbandsmaterial, eine Unterlage, die ich nachts auf mein Bett legen muss, um Blutflecken zu vermeiden, und eine Creme, die ich auf die Bissstellen auftragen soll. Es könnte sein, dass die Krusten, die sich bilden, jucken.
Nach eineinhalb Stunden bin ich durch – Kostenpunkt 400 Franken. Das variiert je nach dem, wie viele Egel verwendet wurden. Mit einer Sitzung ist es aber meist nicht getan, wie Renata Hoffmann sagt:
Bei lokalen Behandlungen reichen oft zwei bis drei Sitzungen in grösseren Abständen. Bei systemischen Behandlungen erfolgen mehrere Sitzungen an verschiedenen Körperstellen, in wöchentlichen Abständen.
Ich fühle mich müde, ausgelaugt und etwas wackelig auf den Beinen. «Bis man die Wirkung wahrnimmt, kann es einige Tage dauern, und manchmal tritt sie nicht genau an der Stelle auf, an der der Blutegel angesetzt wurde», erklärt Renata Hoffmann. Ich bin gespannt.