08.02.2022

Der Narr, der keiner war

Der Altstätter Pintenwirth Joseph Eichmüller, «Abgott der Mehrheit», kam beim Volke an.

Von Werner Ritter
aktualisiert am 02.11.2022
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Am 3. März 1837, an der Sitzung des katholischen Grossratskollegiums (der katholischen Mitglieder des damaligen Grossen Rats des Kantons St. Gallen, heute Kantonsrat), diskutierten die hellsten Köpfe des Kantons über die Frage, ob Joseph Eichmüller von Altstätten ein halber, ein ganzer oder gar kein Narr sei. In einem ausführlichen Artikel berichtete der «St. Gallische Wahrheitsfreund», das Parteiorgan der St. Galler Konservativen, am 7. April 1837 darüber. Weil es den «Rheintaler», die «Rheintalische Volkszeitung» und ihre Vorgängerzeitungen damals noch nicht gab, konnten sie darüber nicht berichten. Dies wird nun nachgeholt.Anlass der Diskussion war eine Rede von Landammann Gallus Jakob Baumgartner, dem damals führenden Politiker im Kanton und Exponent der Liberalen. Nachdem er das Aufziehen von Persönlichkeiten vom Präsidiumsstuhl in Schutz genommen hatte, erklärte er, Joseph Eichmüller von Altstätten sei ein Halbnarr. Er habe ihn als solchen von Jugend an gekannt und alle müssten sich schämen, wenn er im Kanton irgendeine Rolle spielen könne. Ex-Administrationsrat Dr. Bärlocher war damit insofern nicht einverstanden, als er behauptete, Eichmüller sei ein ganzer Narr und dennoch stehe Kantonsrat Pfarrer Popp, ein führender Konservativer, mit ihm in vertrauter Verbindung, wofür sich jeder Ehrenmann schämen müsse.«Machwerk» von 1814 stürzen wollenIn derselben Sitzung war von liberaler Seite Dr. Josef Anton Henne von Sargans, ein weiterer führender Kopf der Liberalen, als hervorragender Geschichtsschreiber über alle Massen gelobt worden.Der angegriffene Pfarrer Popp, der offenbar nicht nur die Bibel, das Brevier und den Katechismus las, zitierte sofort aus der Schweizerchronik von Josef Anton Henne. Es ist davon auszugehen, dass Pfarrer Popp an der Sitzung des Grossratskollegiums sinngemäss zitierte. Der «Wahrheitsfreund» gibt das Zitat wörtlich wieder: «Den Ausschlag jedoch gab ein unbeachteter Mann in Altstätten, der Pintenwirth Joseph Eichmüller, von seinem Vater, nach Rheinthaler Art, zubenannt Naglers Sepp. Dieser Mann, 1814 gestraft, ein Freund von Selbstdenken, Bibelleser und des Volkes durchaus kundig, hatte bereits vor Weihnacht, weil nach (nach seinem Ausdruke) ‹in Paris ein grosser Ring in der Kette gesprungen war, die man 1814 und 1815 um die Völker Europas geschlungen›, den Gedanken gefasst, in St. Gallen das Machwerk von 1814 [die Kantonsverfassung von 1814] zu stürzen, das Volk wieder auf die Stufe von 1798 zu stellen und die reine Demokratie der Landsgemeinde einzuführen.» Des Volkes am Altstätterberg (Kornberg, Kirlen, Gäziberg u. a.), einer kernigen, erregbaren Masse, sicher, hatte er sich amtliche Erlaubnis zu einer Kreisversammlung für die Äusserung von Volkswünschen verschafft. 4000 Menschen kamen auf Altstättens «Breite»Sie war am 5. auf der «Breite». Gegen 4000 Menschen kamen. Vergebens suchten Baumgartner (Altstätten ist sein Geburtsort), Regierungsrath Näff und andere, die Masse nach ihrem Sinn zu leiten. Doch sie schenkte bloss dem Mann des Tages Gehör: Eichmüller. Er wies kurz, bilderreich und bündig auf den bereits abgestorbenen Stamm von 1814 und dann auf das frischblühende Volksleben hin und rief: «Ist die Regierung Herr, so ist billig, dass sie die Verfassung mache; ists aber das Volk, so soll dieses an die Arbeit.». Jubelnd beschloss die Menge: der kleine und der grosse Rath samt allen Behörden sind bloss provisorisch; die Neunzehner-Kommission soll aufgelöst und vom souveränen Volk in Kreisversammlungen ein «volksthümlicher Verfassungsrath» erwählt werden, und ging ruhig nach Hause.Am 6. schloss sich die in Rheinek versammelte Rheinthalische Gesellschaft (die Masse der Gebildeten), begeistert von einer Rede des jungen Advokaten August Näff, Bruder des Regierungsrathes, dieser Bewegung an. Der anwesende Baumgartner wurde sogar mit erwählt, dem kleinen Rathe jenes Begehren überbringen zu helfen. Von da an war die Schenkstube Eichmüllers ohne Aufhören voll, und er wurde die Seele der Volksbewegungen der minder gebildeten Klasse.Ebenso boshaft wie genüsslich erklärte der angegriffene Pfarrer Popp: Wenn man nach einem solchen Zeugnisse noch sagen dürfe, Joseph Eichmüller sei ein Narr – er, dem «die Masse der Gebildeten im Rheinthal» begeistert folgte, dem sogar Hr. Baumgartner einst diente, indem er «dem Kl. Rath überbringen musste», was jener (der dem Hrn. Baumgartner von Jugend auf bekannte Halbnarr) angeregt und zu Stande gebracht hatte, – «dann, meine Herren!, muss man auch sagen und zugeben, Dr. Henne sei der grösste Narr aller Narren. Ich habe geschlossen.»Eichmüller machte sich Baumgartner zum FeindTatsächlich hatte die demokratische Bewegung, zu deren Führern Joseph Eichmüller gehörte, grossen Einfluss auf die St. Gallische Kantonsverfassung von 1831. Eichmüller wurde aus zwei Gründen zu einem Feind Gallus Jakob Baumgartners. Zum einen wollten die Liberalen zwar auch eine demokratische, aber nicht wie Eichmüller eine direktdemokratische Verfassung, sondern eine repräsentativ-demokratische.Zum anderen wurde Eichmüller, der «Abgott der Mehrheit», wie Baumgartner im Werk «Erlebnisse auf dem Felde der Politik» schreibt, bei der Kreisversammlung in Altstätten als erster Vertreter in den Verfassungsrat gewählt, Baumgartner nur als dritter Vertreter.Anschliessend an die Schilderung der Wahlen schüttete Baumgartner einen Kübel an Gehässigkeiten über seinen Widersacher Eichmüller aus.Mit Stöcken bewaffnet nach St. Gallen gezogenWeiteres Missfallen bei den Liberalen erzeugte Eichmüller mit dem «Stecklidonschtig». Weil die Demokraten, zu denen Eichmüller gehörte, mit ihren Anträgen im Verfassungsrat nur teilweise durchdrangen, machten sich am 13. Januar 1831 rund 600, teilweise mit Stöcken bewaffnete Rheintaler Bauern, nach St. Gallen auf. Sie besetzten die Treppen des Regierungsgebäudes und versammelten sich vor dem Ratssaal, um Eichmüller zu unterstützen. Die Verhandlungen des Verfassungsrats mussten unterbrochen werden. Baumgartner und anderen rheintalischen Mitgliedern des Rates gelang es schliesslich, die Menge zu beruhigen und zur Heimkehr zu bewegen.Bei den Wahlen des neuen Grossen Rates gab es eine weitere Enttäuschung für Baumgartner. Er wurde im Bezirk Oberrheintal von der Bezirkslandsgemeinde nicht gewählt. Die Schuld dafür gab er den Demokraten um Joseph Eichmüller. Weil er aber in der Stadt St. Gallen gewählt wurde, zog er dennoch in den Grossen Rath ein.Insgesamt zeigt dieses Beispiel, wie heftig die Geburtswehen waren, bis im 19. Jahrhundert die demokratische und rechtsstaatliche Schweiz entstand, wie wir sie heute kennen und mit welch harten Bandagen in den Ratssälen, der Öffentlichkeit, aber auch den Medien gekämpft wurde.

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