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Altstätten 29.08.2024

Zwischen Alpromantik und Kuhmist: Zwei Rheintaler verbringen den Sommer als Älpler

100 Tage auf einer Alp schuften: Fabian und Edwina erzählen, warum das Älplerleben es wert ist, früh aufzustehen, 13 Stunden zu arbeiten, Dorffeste zu verpassen und drei Monate auf eine Dönerbox zu verzichten.

Von Cassandra Wüst
aktualisiert am 02.09.2024

Es ist Samstagmorgen, kurz vor 4 Uhr. Während im Rheintal die letzten Feiernden den Nachhauseweg antreten, drücken zwei Älpler auf der Alp Vermii ihren Wecker auf Snooze. Nach der vierten Wiederholung wird es Zeit. Zeit für den Kaffee. Zeit, die Kühe von der Weide zu holen, sie zu melken und anschliessend den Kuhdreck wegzuputzen und die Milch in die Sennerei zu bringen. Und das alles, bevor die Partygänger aus dem Rheintal überhaupt ihren ersten Kater-Kaffee trinken.

Seit Ende Mai sind die beiden Altstätter Fabian Söldi und Edwina Margreth auf der Alp oberhalb von Wangs. Anfang September kehren sie wieder ins Tal zurück. Doch die Zeit dazwischen ist alles andere als ein entspannter Sommerurlaub. Die romantische Vorstellung vom einfachen Leben in den Bergen weicht schnell der Realität, die von harter Arbeit und langen Tagen geprägt ist.

Zwischen Alpromantik und Kuhmist: Zwei Rheintaler verbringen den Sommer als Älpler

Ein Leben im Rhythmus 
der Natur

Fabian und Edwina sind im alltäglichen Leben selbstständiger Automationstechniker und Kita-Angestellte. Diesen Sommer haben sie sich dafür entschieden, während drei Monaten die Schraubenzieher und Windeln gegen Mistgabeln und Käsepresse einzutauschen. Edwina lacht und beschreibt ihre Arbeit auf der Alp mit einem Augenzwinkern: «Es ist ungefähr dasselbe mit den Kühen wie mit den Kindern: Du musst schauen, dass sie zu essen haben, dass es ihnen gut geht und hinter ihnen sauber machen.»

Während Edwina auf einem Bauernhof in der Lenzerheide aufgewachsen ist und bereits vor zwei Jahren einen Sommer auf der Alp verbracht hat, ist das Sennenleben für Fabian Neuland. Er sagt:

Die Herausforderung hat mich gereizt.

Und diese Herausforderung haben sie gefunden: Auf der Alp beginnt der Tag früh und endet spät. «Um 4 Uhr morgens aufzustehen, ist nur der Anfang», sagt Fabian. Die beiden arbeiten oft 13 Stunden am Tag, und jeder Tag bringt neue Aufgaben mit sich. Dazu gehören stundenlanges Melken, Käseproduzieren, Säubern, Arbeiten an den Zäunen der Kühe, den Haushalt führen und nebenbei noch den Käse verpacken und für das Hoflädeli herrichten. Die beiden sind für den Sommer im Tageslohn bei der Alpkooperation angestellt.

Anfangs bis zu 16 Stunden am Tag gearbeitet

Zwischen Alpromantik und Kuhmist: Zwei Rheintaler verbringen den Sommer als Älpler

Was viele nicht bedenken: Die Arbeit auf der Alp ist nicht nur körperlich fordernd, sie bringt auch eine enorme Verantwortung mit sich. 60 Kühe – von Bauern aus Oberegg bis Zürich – betreuen die beiden während des Sommers. Hinzu kommen Schweine, Hühner und ein Hund. Ausserdem produzieren die beiden Altstätter rund sechs Tonnen Käse während der drei Monate. Das entspricht einem Wert von etwa 120 000 Franken. «Da muss alles stimmen, jede Entscheidung kann Kon­sequenzen haben», sagt der 28-Jährige. Beide hatten zwar zuvor einen mehrwöchigen Sennenkurs absolviert, aber die Realität in der Sennerei stellte sie vor unerwartete Herausforderungen. «Es war, als wären wir ins kalte Wasser geworfen worden», erinnert sich Edwina. Vieles mussten sie sich selbst beibringen: «Die technischen Einrichtungen hier sind nicht wie im Kurs.»

Um die Sennerei auf der Alp zu schmeissen, haben Fabian und ­Edwina einen Senner-Kurs besucht.
Um die Sennerei auf der Alp zu schmeissen, haben Fabian und ­Edwina einen Senner-Kurs besucht.
Bild: pd

Das führte anfänglich zu langen Tagen – bis zu 16 Stunden. Fabian vergleicht es mit einer Durchhaltewoche, man funktioniere einfach. Oft sei dies der Zeitpunkt, an dem viele Älpler abspringen und den einfacheren Weg wählen. «Wir haben es irgendwie geschafft», sagt Edwina. Denn nicht nur die Arbeit selbst, auch die Zusammenarbeit als Paar ist eine He­rausforderung. Wenn man sich sieben Tage die Woche rund um die Uhr sieht und zusammenarbeitet, lernt man sich neu kennen. Fabian sagt: 

Den Weg zusammen zu finden, erfordert viel Abstimmung und Kompromissbereitschaft.

Dass er im normalen Leben als Automationstechniker arbeitet, kam dem Paar dabei sehr zugute. Wenn der Strom ausfällt, der Generator oder die Melkpumpe streiken, konnte Fabian das Problem oft selbst beheben. Das hat ihnen nicht nur viel Zeit erspart, sondern auch verhindert, auf externe Hilfe angewiesen zu sein.

Von Sonnenuntergängen und einer Dönnerbox

Trotz der harten Arbeit und der Belastungen, die dieser Sommer mit sich bringt, gibt es auch Momente, die die beiden nicht missen möchten. Die Arbeit mit den Tieren, die Sonnenaufgänge, die Ruhe der Natur und die Besuche von Familie, Bekannten und den Bauern selbst:

Es gibt nichts Schöneres, als den ersten selbst gemachten Käse zu probieren und zu sehen, dass er den Bauern gefällt.

Und am Ende eines jeden Tages, wenn die Sonne hinter den Bergen versinkt, sind Fabian und Edwina müde, aber zufrieden. «Man fällt abends körperlich erschöpft ins Bett, aber es ist eine angenehme Erschöpfung, weil man weiss, dass man etwas Wertvolles geleistet hat», sagt Fabian.

Blick auf die Churfirsten – die Alp Vermii oberhalb von Wangs bietet den beiden Älplern eine herrliche Aussicht auf die Berge.
Blick auf die Churfirsten – die Alp Vermii oberhalb von Wangs bietet den beiden Älplern eine herrliche Aussicht auf die Berge.
Bild: pd

In wenigen Tagen endet ihr Sommer auf der Alp Vermii. Am 7. September ist Alpabzug in Wangs. Dann kehren sie zurück ins Tal, in ihren Alltag im Rheintal. Was sie als Erstes machen, nach 100 Tagen fernab von Zivilisation, Netflix und Lieferservice? «Eine Dönerbox essen», sagt Fabian sofort und lacht. «Wenn wir sie hierher liefern lassen würden, wäre sie kalt, wenn sie ankommt.» Auch Edwina muss nicht lange überlegen: «Ausschlafen.»

Die Alp Vermii oberhalb von Wangs.
Die Alp Vermii oberhalb von Wangs.
Bild: pd

Und obwohl sie es zu Hause geniessen werden, ihr Alpleben werden sie trotzdem vermis­-sen: die Tiere, die Natur und auch die Idylle des einfachen Lebens. Und da ist es auch 
nicht schlimm, wenn man im Sommer die ein oder andere «Hundsverlochete» im Rheintal verpasst hat, sind sich die beiden einig. Ob sie nochmals auf die Alp gehen werden, steht nicht fest. Edwina beruft sich auf eine alte Älpler-Weisheit:

Das sagt man nie, bevor die Alpsaison vorbei ist – das bringt Unglück.

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