14.05.2019

Zurück aus der Hölle

Dies ist eine traurige Geschichte. Sie kennt nur Verlierer. Begonnen hat sie mit drei Verhaftungen am frühen Morgen. Was Edwin und Stefan Kopp erleben mussten, hat ihr Vertrauen in unser Rechtssystem schwer erschüttert.

Von gb
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererAls der Landwirt Stefan Kopp der Bevölkerung am Wochenende vom 22./23. August 2015 an einem Tag der offenen Tür den neuen Stall vorführte, ahnte er noch nichts von den schweren Anschuldigungen, die gegen ihn, seinen Vater Edwin Kopp sowie einen Kollegen erhoben worden waren.Im Vordergrund stand der Vorwurf, sich mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern aus der Verwandtschaft schuldig gemacht zu haben. Vier Mädchen im Alter von zweieinhalb, fünf, sieben und knapp neun Jahren.Das Leben war zu jener Zeit schon schwer genug. Die Gattin Stefan Kopps litt an Krebs und hätte in der Woche nach der öffentlichen Stallbesichtigung mit der Chemotherapie beginnen sollen. Stattdessen kam am Donnerstag die Polizei zu Kopps.Polizei kam zu allen gleichzeitigFast zeitgleich, morgens zwischen sechs Uhr fünfzehn und halb sieben, kamen gut ein Dutzend Polizisten auf den Hof von Stefan Kopp und sieben auf die Alp zum Vater. Weitere drei Polizisten holten Stefan Kopps Kollegen von zu Hause ab.Die nächsten 40 Tage verbrachten Kopps im Gefängnis. In Untersuchungshaft. Stefan Kopp in St.Gallen, sein Vater in Altstätten.Das Leben war mit einem Schlag ein völlig anderes.Der Verdacht erniedrigend.Die Wut gepaart mit bitterer Enttäuschung.Der Landwirt sagt: «Würde ich Tiere so einsperren wie mich der Staat, ich wäre morgen wieder im Gefängnis.»Stefan Kopps Gemahlin ist im letzten Jahr am Krebs gestorben. Seine jüngste Tochter, heute 13-jährig, wurde anfangs in der Schule schikaniert. Der Sohn war, als es zur Verhaftung kam, bereits erwachsen, brach die RS ab und schaute auf dem Hof zu rechten, bis der Vater aus der U-Haft wiederkehrte.Es verging viel Zeit, bis den Beschuldigten der schwere Stein vom Herzen fiel, der es belastet hatte.Am 560. Tag nach der Verhaftung hielt die Staatsanwaltschaft fest: «Das Verfahren (…) wird eingestellt.»Freigesprochen, ohne Wenn und AberWeitere zwei Jahre und zwei Wochen später war im Amtsblatt des Kantons St.Gallen (Nr. 18 vom 29. April 2019) endlich das zu lesen, worauf Edwin Kopp gepocht und worauf er so sehnlich gewartet hatte: Das Strafverfahren gegen ihn «wird eingestellt“.»Was das bedeutet, war im Amtsblatt nicht erklärt, in der Einstellungsverfügung hingegen sehr wohl: Eine rechtskräftige Einstellungsverfügung «kommt einem freisprechenden Endentscheid gleich.»Oder, wie’s im Volksmund hiesse: Edwin Kopp ist freigesprochen, Punkt.Ein Freispruch ohne Wenn und Aber. Das gleiche gilt für seinen Sohn Stefan und dessen Kollegen.«Die ganze Familie ist gestraft»Angefangen hatte alles mit gut zwanzig von Hand beschriebenen A4-Seiten. Die Mutter der vier angeblich missbrauchten Mädchen hat diese «Tagebucheintragungen», wie die Staatsanwaltschaft sie nannte, verfasst.Bei den Beschuldigten löst dieses Manuskript, dem eine Befragung der Verfasserin durch die Staatsanwaltschaft folgte, immer noch Kopfschütteln aus. Es ist aus ihrer Sicht ein Hirngespinst, jedenfalls keine ernst zu nehmende Schrift, die 40 Tage Haft zweier Unbescholtener sowie anschliessende Kontakt- und Redeverbote während Monaten zur Folge hätte haben dürfen.Stefan Kopp zieht ein kurzes, nüchternes Fazit, indem er sagt: «Ich bin sehr enttäuscht vom Staat. Eine derart einseitige Behandlung hätte ich nie erwartet.»Seine in Altstätten lebende Schwester fügt hinzu: «Die ganze Familie ist gestraft.»Und ihre lange Pause hinter diesem Satz meint vorwurfsvoll: Für nichts.Alles durchsucht, viel mitgenommen200 CDs, sagt Stefan Kopp, habe die Polizei am Tag der Verhaftung mitgenommen. Wer sich das habe anhören müssen, der könne jetzt sicher gut jodeln.Die damals neunjährige Tochter habe nicht von der Schwester geweckt werden dürfen; vielmehr hätten zwei Polizisten sie geweckt, einer von ihnen mit schusssicherer Weste. Immerhin: Die Polizei, berichten alle Beteiligten, habe sich sonst wenigstens korrekt verhalten.Alles wurde durchsucht, viel mitgenommen, und Schaufeln, Gabel- und Besenstiele wurden aufgrund der Beschuldigungen vor Ort untersucht.Das gleiche Prozedere bei Edwin Kopp, zu Hause sowie auf der Alp, wo er sich aufhielt – er mit 80 Tieren, 120 waren auf dem Hof des Sohnes.Aus dem Fall kein Geheimnis gemachtDie Nachricht von den Verhaftungen verbreitete sich wie ein Lauffeuer. In Rüthi und weit übers Dorf hinaus, in Bauernkreisen in der ganzen Ostschweiz und viel weiter weg erfuhren Menschen von der Sache.In Buriet war am Tag der Verhaftung, also am 27. August 2015, eine Speichelprobe abzugeben, wurden die Beschuldigten von allen Seiten fotografiert. Schuhe und Gürtel mussten sie abgeben, damit sie sich nicht selbst gefährden konnten.Am Nachmittag folgte ein erster Besuch bei der Staatsanwaltschaft in Altstätten. Da sah Stefan Kopp, dass sein Kollege ebenfalls hineingezogen war, das habe er bis dahin nicht einmal gewusst gehabt.Nach aussen war man immer offen. Stefan Kopps Altstätter Schwester sagt, die Familie habe von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, worum es ging, was ihrem Bruder und dem Vater vorgeworfen wurde.Aussagen nicht glaubwürdigAls Kopps in U-Haft waren, insgesamt fast tausend Stunden, fanden die Ermittler nichts, was auch nur gegen einen der drei angeschuldigten Rheintaler gesprochen hätte.Was gegen sie vorlag: Die Schilderungen dreier angeblich direkt betroffener Mädchen und Aussagen von Dritten, die berichteten, was ihnen erzählt worden war.Durch die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Forensische Psychatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendforensik, wurden drei Glaubwürdigkeitsgutachten erstellt, je eines für jedes der drei Mädchen, die ausgesagt hatten.Die Gutachterinnen kommen zusammengefasst zum Schluss, dass «der Realitätsbezug der angeblichen Ereignisse nicht nachgewiesen werden konnte», wie es in der Einstellungsverfügung des Untersuchungsamtes Altstätten vom 13. März 2017 heisst.Die den drei Männern vorgeworfenen Übergriffe seien wenig detailliert, sehr knapp, teils widersprüchlich und nicht lebensnah geschildert worden. Diese Schilderungen seien auch nicht individuell geprägt. Es könne nicht auf einen realen Erlebnishintergrund geschlossen werden.Dass es zu strafbaren Handlungen gekommen wäre, liess sich «in keiner Art und Weise erhärten». Es liessen sich keinerlei Hinweise zu Lasten der Beschuldigten und auch keine belastenden Spuren finden.Vom Institut für Rechtsmedizin St.Gallen wurden alle vier Mädchen forensisch-kindergynäkologisch untersucht, ohne dass Belastendes daraus hervorgegangen wäre. Auch «konnte nicht geklärt werden, wie es möglich sein sollte, dass drei Männer unabhängig voneinander während mehreren Jahren gleichartige Übergriffe (…) hätten verüben können, ohne sich entsprechend abzusprechen» oder zumindest von den Taten der anderen zu wissen. Nach den Schilderungen der Klägerin hatte jeder der Männer jeweils allein gehandelt.Die im Namen der vier Mädchen eingereichte Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens und die Forderung, es sei Anklage zu erheben respektive die Ermittlung fortzusetzen, wurde vom Bundesgericht am 23. März 2018 abgewiesen. Unter anderem wies das Gericht darauf hin, dass eine «massgeblich suggestive Beeinflussung, die Auswirkungen auf die strafrechtlich relevanten Aussagen hatte», nicht auszuschliessen sei. Die Gutachterinnen hätten dies «überzeugend und nachvollziehbar» dargelegt.Das Bundesgericht hielt fest, das Untersuchungsverfahren sei insgesamt «sorgfältig und mit dem nötigen Aufwand geführt worden», zusätzliche und zielführende Beweiserhebungen bzw. Abklärungsmöglichkeiten seien nicht erkennbar.Viel deutliche Kritik für drastisches VorgehenStefan und Edwin Kopp hadern mit den Strafverfolgungsbehörden. Sie wundern sich nach wie vor über das Vorgehen. Dass ihrer Verhaftung keinerlei Abklärungen vorausgegangen seien, sondern die Handschellen zuschnappten aufgrund einer einzigen Anschuldigung, übersteigt ihre Verständnisbereitschaft.Nicht nur sie selbst staunen. Im Bericht eines ärztlichen Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist nicht nur von einem «Trauma für die ganze Familie» und von «einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung» die Rede, der Stefan Kopps Kinder ausgesetzt gewesen seien. Es wird auch in deutlichen Worten Kritik an der Staatsanwaltschaft geübt, deren Vorgehen als «unprofessionell und oberflächlich» bewertet wird und das mit Vorurteilen gegen Stefan Kopp behaftet gewesen sei.Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft ihr drastisches Vorgehen gegen drei beschuldigte Männer aufgrund der subjektiven Aussage einer einzigen Person gestützt. Weder seien mögliche Beweggründe für diese Aussage noch die Persönlichkeit der Klägerin geprüft worden, drückt der Psychiater Verwunderung aus.Die Familie Kopp ist unter anderem über folgenden Umstand erstaunt, um nicht zu sagen entsetzt: Obschon die Klägerin am 21. August 2015 in ihrer Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Tochter Stefan Kopps massgeblich erwähnt, wird diese Tochter von der Staatsanwaltschaft erst am 4. November 2015 befragt – also einen Monat nach der Haftentlassung von Stefan und Edwin Kopp.In dieser Befragung, die 152 Fragen der Staatsanwaltschaft und ebenso viele Antworten der Tochter enthält, bestätigt das Mädchen in keiner Weise die Anschuldigungen gegen ihren Vater, im Gegenteil.Eine zweite Tochter Stefan Kopps, 18-jährig zum Zeitpunkt der Befragung, wurde von einem Mann einvernommen.Nicht nur der Psychiater, der Stefan Kopps Kinder in ihrer schweren Zeit betreute, kritisiert in seinem Bericht die Staatsanwaltschaft, sondern auch der Hausarzt. Dieser bezeichnet das Redeverbot, das die Behörden Stefan Kopp auferlegt hatten, als äusserst belastend; erst nachdem der Arzt bei der Staatsanwaltschaft interveniert hatte, wurde das Redeverbot wenigstens gegenüber einem Psychiater aufgehoben. Der Hausarzt schreibt in seinem Bericht, dass es sich einerseits gewiss um einen komplexen Fall gehandelt habe und die Anschuldigungen natürlich gewissenhaft zu klären gewesen seien. Er gibt jedoch zu verstehen, dass die Staatsanwaltschaft den Fall seines Erachtens zu wenig zügig bearbeitet habe und die «Verhältnismässigkeit nicht gewahrt» worden sei. Auch alle anderen in irgendeiner Form beteiligten Ärzte – ausser ihm selbst sowie dem Psychiater drei weitere Personen – hätten «gegenüber der Staatsanwaltschaft Skepsis und Kritik geäussert».Entschädigung als Hohn empfundenDie Kopps erlebten, wie Menschen sich von ihnen abwandten.An der Rüthner Kilbi, unmittelbar nach der Entlassung aus dem Gefängnis, verliessen zwei Paare den Tisch, an den Stefan Kopp sich mit seiner Familie setzte.Andere seien auf ihn zugekommen und hätten gemeint, es sei gut, dass er mit der Familie hier sei.Schon vom ersten Tag an ging er wieder unter Leute.Doch Stefan Kopp hatte wie sein Vater während Monaten verschiedene Auflagen zu befolgen. So war es ihm verboten, sich an bestimmten Orten aufzuhalten und mit bestimmten Personen, darunter seinem Vater, in Kontakt zu treten oder über das Strafverfahren zu reden. Selbst gegenüber der Ehefrau musste er schweigen.Stefan Kopp erhielt vom Staat am Ende 58000 Franken zugesprochen.Von dieser Summe sind 8000 Franken als Haftentschädigung gedacht, weitere 12000 für die Auflagen nach der Entlassung.Wofür genau das andere Geld ausgezahlt wurde, bekam Stefan Kopp nicht klar dargelegt.Angesichts seiner insgesamt hohen Auslagen und des grossen erfahrenen Leides der ganzen Familie hält er den Betrag für einen Hohn. Er hat sich aber nach dem Tod der Gattin nicht gewehrt, er hatte einfach nur genug von allem.Anders Vater Edwin Kopp. Ihn wollte der Staat total mit 24000 Franken entschädigen.Er kämpft für mehr, denn diese Summe findet er gar wenig für die lange Zeit, in der er ohne eigenes Verschulden in der Hölle schmoren musste.

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