04.02.2021

«Zum Glück hatte ich nie Suizidgedanken»

Die Balgacherin Esther Tagmann erzählt von ihrem Weg aus der Depression und wie ihr diese Erfahrung aktuell hilft.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin Schmid«Mir geht es glücklicherweise seit ein paar Jahren wieder sehr gut», sagt Esther Tagmann, «aber bis dorthin war es ein harter und langer Weg.» Nach einer herausfordernden und kräftezehrenden Zeit und weil ihr soziales Umfeld nicht wusste, wie mit ihr umzugehen sei, erlitt sie 2009 einen Nervenzusammenbruch. Darauf verbrachte sie vier Wochen in einer psychosomatischen Rehaklinik. «Die Weiterführung der psychotherapeutischen Behandlung gestaltete sich nach meiner Rückkehr nach Hause sehr unglücklich», sagt die 49-Jährige, «da-durch verschlechterte sich mein Zustand zusehends.» Wenige Monate später ging es ihr so schlecht, dass sie eine weitere Auszeit nehmen musste. Ihr Therapeut empfahl ihr einen Aufenthalt in der offenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik. «Während dieser Zeit erhielt ich die Diagnose einer schweren Depression», sagt Esther Tagmann, «als ich nach mehreren Monaten Behandlung soweit genesen war, dass ich wieder nach Hause konnte, war ich immer noch so schwach, dass ich mich mehrmals täglich für längere Zeit hinlegen und ausruhen musste.» In kleinen Schritten, mit viel Geduld, Disziplin und Durchhaltewillen, begleitet von Ärzten, Therapeuten und der psychiatrischen Spitex, war es möglich, dass sie nach etlichen Jahren des Leidens, des Hoffens und des nicht Aufgebens doch wieder zu ihrer ursprünglichen Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit zurückfinden konnte. «Darüber freue ich mich sehr», sagt die 49-Jährige. Ein TeufelskreisentstehtIm Gegensatz zu einem Beinbruch mit Gips seien psychische Erkrankungen von aussen nicht einfach zu sehen, obwohl sie genauso oder mitunter noch stärker den Alltag und die Lebensqualität einschränken können. Das führe dazu, dass die Folgen für das Umfeld der Betroffenen viel weniger nachvollziehbar seien. «Jeder hat mal einen schlechten Tag oder keine Lust, etwas zu erledigen», sagt Esther Tagmann, «aber die Krankheit verhindert nicht das Wollen, sondern das Können.» Selbst einfache Handlungen wie Einkaufen, sich duschen oder Rechnungen bezahlen, verlangen alles von einem ab und gestalten sich als kaum zu bewältigende Aufgaben. Das sei frustrierend. «Noch frustrierender sei es jedoch, zu sehen, dass gesun-de Menschen diese Sachen scheinbar mühelos und zügig erledigen und einem dadurch in solchen Momenten vor Augen geführt wird, wie unfähig man selbst geworden ist», sagt die Balgacherin. Das Wahrnehmen dieser eigenen Unfähigkeit und der sich fortsetzenden Misserfolge führe zur weiteren Verschlechterung der eigenen Situation und es entstehe ein Teufelskreis.Einen Funken Hoffnung beibehaltenTypisch für eine Depression sei nebst der beschriebenen Antriebslosigkeit auch eine bleierne Müdigkeit, die trotz viel Erholung nicht weggehe. «Während man in akuten depressiven Phasen häufig nur noch untätig rumsitzt, rattert es im Kopf auf Hochtouren», sagt Esther Tagmann. Jedoch sind es meistens die immer gleichen, sich wiederholenden Gedanken, ohne dass wirklich etwas Produktives oder Hilfreiches daraus entsteht. Auch eine reduzierte Konzentrationsfähigkeit sei häufig, und mit fortwährender Erkrankung mache sich Resignation breit. «Trotz der Schwere meiner Depression hatte ich nie Suizidgedanken», sagt Esther Tagmann, die als Hauswartin in einem Kindergarten und als Prädikantin in der evangelischen Kirche arbeitet. Das sei unüblich. Vielmehr hatte sie immer einen Funken Hoffnung, dass es ihr mit der richtigen, professionellen Hilfe wieder besser gehen wird.Die Entbehrungen sind nicht für immerDie Wissenschaft sagt, wer einmal an einer Depression erkrankt ist, hat im Gehirn Strukturen angelegt, die bei ähnlicher Ausgangslage rasch re-aktiviert werden. So geschehen im Lockdown letzten Frühling, als sie an zwei Tagen vom Gefühl, vergessen und mit der Situation allein gelassen zu werden, heruntergezogen wurde. Und das, obwohl sie die Krankheit überwunden hatte. Sie habe gelernt, sich bewusst dagegen zu entscheiden, sich weiter in den wohlvertrauten Teufelskreis ziehen zu lassen und sich aktiv abzulenken. In all den Jahren, in denen sie mit der Krankheit lebte, eignete sie sich verschiedene Bewältigungsstrategien an, die ihr nun auch in der Coronakrise helfen: Gelassen bleiben und sich nicht über Dinge aufregen, die man nicht ändern kann, sich auch an kleinen Dingen erfreuen sowie Unspektakuläres wahrnehmen und schätzen. Sie durfte erfahren, dass Entbehrungen nicht für ewig sind und nachher der Genuss und die Freude umso schöner sind. Esther Tagmann weiss, dass es wichtig ist, sich selbst Gutes zu tun und sich Sorge zu tragen sowie, dass Bewegung in der Natur der Psyche guttue. Abschliessend ist es ihr wichtig zu betonen: «An Depression Erkrankte schätzen es, wenn sich das Umfeld mit echtem Interesse nach ihrem Ergehen erkundigt. Wenn sie sich ernst genommen fühlen in ihrem Empfinden und Leiden.» HinweisMehr Informationen unter: www.ofpg.ch.

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