03.09.2020

«Wurden über den Tisch gezogen»

Die Gemeinde Lutzenberg gibt ihren Kampf gegen die Weiterführung des Asylzentrums Landegg nicht auf.

Von Jesko Calderara
aktualisiert am 03.11.2022
Der Gemeinderat Lutzenberg lässt nicht locker. Kürzlich hat er dem St. Galler Regierungsrat Fredy Fässler einen geharnischten Brief geschrieben, den alle sieben Mitglieder des Gremiums und die Gemeindeschreiberin unterzeichneten. Inhalt des Schreibens: mehrere Forderungen zur künftigen Nutzung der Liegenschaft Landegg. Dort will der Trägerverein Integrationsprojekte St. Gallen (TISG) ab Frühjahr 2021 ein Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreiben.Im Schreiben verlangt der Gemeinderat unter anderem die Rücknahme des Mietvertrages zwischen dem TISG und der Landegg-Eigentümerin. Gleichzeitig pocht er erneut auf die Einhaltung der Vereinbarung von 2009 zwischen den Kantonen St. Gallen und Ausserrhoden. Diese besagt, dass das Zentrum Landegg auf den 31. März 2021 geschlossen wird, wenn eine der vier Kantons- oder Gemeindebehörden (Lutzenberg oder Eggersriet) einer Weiterführung nicht zustimmt. Die Vorderländer Gemeinde hat dies bereits 2016 ausgeschlossen.Fall Landegg: Potenzielles Problem für GemeindenZumindest rechtlich scheint die Vorgehensweise des TISG korrekt zu sein, denn der private Verein handelt im Auftrag der St. Galler Gemeinden und nicht in jenem des Kantons St. Gallen. «Politisch ist es aber eine Katastrophe und der Schaden bereits jetzt gross», sagt die neue Lutzenberger Gemeindepräsidentin Maria Heine Zellweger. Der TISG habe mit seinem Entscheid den Geist des vor über zehn Jahren abgeschlossenen Vertrages verletzt. Dieser sei eine Voraussetzung gewesen, dass die Bevölkerung das Asylzentrum in Anbetracht des absehbaren Endes mitgetragen hätte. Nun soll es in der Landegg also weitergehen.Heine Zellweger wählt bei solchen Perspektiven drastische Worte: «Wir sind über den Tisch gezogen worden», ärgert sie sich. Das könnte nun sogar für alle Gemeinden schweizweit zum Problem werden. Davon ist zumindest Vizegemeindepräsidentin Esther Albrecht überzeugt. Niemand werde mehr einen solchen Vertrag unterschreiben, wenn er spitzfindig umgangen werde. «Auch das Vertrauen der Bevölkerung in Behörden wird stark leiden», sagt Albrecht. Besonders gross ist in Lutzenberg der Ärger auf den Eggersrieter Gemeindepräsidenten Roger Hochreutener, der bis Ende Jahr auch Geschäftsführer des TISG war. Dessen Verhalten wird im Brief an den St. Galler Regierungsrat als «zutiefst unschweizerisch» bezeichnet, da er weder kompromissbereit sei noch sich an Verträge halte. Vor allem seine Doppelrolle ist dem Gemeinderat ein Dorn im Auge. Seiner Ansicht nach müsste man diese sogar aufsichtsrechtlich überprüfen lassen.Wienacht nimmt seit 30 Jahren Asylbewerber aufZufrieden ist Heine Zellweger dagegen mit dem Ausserrhoder Regierungsrat. Insbesondere Yves Noël Balmer habe alles unternommen, um die Landegg-Pläne zu verhindern. Der Kanton hat allerdings wie Lutzenberg keine rechtlichen Möglichkeiten, das auf Eggersrieter Gemeindegebiet geplante Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende zu verhindern. Es gibt noch einen weiteren Dämpfer, denn der Vorsteher des St. Galler Sicherheits- und Polizeidepartements hat unterdessen das Schreiben beantwortet. Regierungsrat Fredy Fässler wiederholt in der Antwort seine Haltung und verweist weiterhin auf die Gemeindeautonomie.Aufgeben will man gemäss Albrecht trotzdem nicht. Vielmehr soll der politische Druck erhöht werden. Dies könnte beispielsweise mit einem Brief an Karin Keller-Sutter geschehen. Die heutige Bundesrätin hatte in ihrer Funktion als St. Galler Regierungsrätin damals den Vertrag für den Nachbarkanton unterschrieben. Abgesehen davon wurde in Lutzenberg wie schon 2009 eine Taskforce gegründet, teilweise mit den gleichen Mitgliedern. Das Asylwesen an sich stellt der Gemeinderat Lutzenberg aber nicht in Frage, wie Heine Zellweger und Albrecht im Gespräch mehrmals betonen. Man wolle auf keinen Fall fremdenfeindliche Ressentiments schüren, sagt die Gemeindepräsidentin. Zur gesellschaftlichen und beruflichen Integration von Jugendlichen sei der abgelegene Standort Landegg jedoch ungeeignet. Heine Zellweger ergänzt: «Im kleinen Dorf Wienacht gibt es zum Beispiel keinerlei Infrastruktur für Sport- oder Freizeitaktivitäten und auch keine Anbindung an den öffentlichen Verkehr.» Abgesehen davon verweist die Lutzenberger Gemeindepräsidentin auf den Beitrag, den der 50 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Weiler bereits geleistet hat. «Seit 30 Jahren nehmen wir Asylbewerber auf, nun sind andere Gemeinden an der Reihe», findet Heine Zellweger. Heim auf sich allein gestelltDie Regierung von Appenzell Ausserrhoden kann in der Causa Landegg nichts mehr unternehmen. «Wir haben alles gemacht, was in unserer Kompetenz steht», sagt Sozialdirektor Yves Noël Balmer. «Primär haben wir politisch an den TISG appelliert, von den Plänen abzusehen. Rechtlich hatten wir nie eine Handhabe, um gegen die Pläne des TISG vorzugehen.»Der Alleingang hat allerdings Folgen: Bislang bestand ein gemeinsames Sicherheitsdispositiv auf der Landegg. So stellte der Kanton Ausserrhoden Ressourcen der Kantonspolizei zur Verfügung. Das entfällt laut Balmer mit der Schliessung des kantonalen Asylzentrums spätestens im Frühling 2021. «Der Trägerverein Integrationsprojekte St. Gallen muss selbstständig für die Sicherheit in und um das Zentrum Landegg sorgen», sagt der Ausserrhoder Regierungsrat.Die Pläne des TISG, die Landegg weiter als Asylzentrum führen zu wollen, waren Anfang Jahr bekannt geworden. Die Kritik ist seither nicht verstummt. Der viel gescholtene Gemeindepräsident von Eggersriet und ehemalige TISG-Geschäftsführer Roger Hochreutener räumte zwar Versäumnisse ein. Gegenüber den «Tagblatt»-Medien wollte er im Januar aber nicht von einem Asylzentrum sprechen, sondern von einem Internat, das der TISG betreiben wird. Er verglich es mit dem Pestalozzi-Dorf in Trogen. Und dort würde auch niemand von einem Asylzentrum reden. Hochreutener machte zudem geltend, dass Ausserrhoden und Lutzenberg bei der Umzonung nicht vorwärtsgemacht hätten. Das Grundstück befindet sich weiterhin in der Kurzone. «Wenn die Liegenschaft nicht umgezont wird, hat der Besitzer wenig Nutzungsmöglichkeiten. Es wundert nicht, dass er an der Weiterführung der Landegg als Heim interessiert ist», sagt er. (dsc)

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