15.10.2021

Worte wirken

Von Marcel Wildi
aktualisiert am 03.11.2022
Es ist erstaunlich, wie wir Menschen miteinander reden. Der Umgangston, gerade in den sozialen Medien, ist rau und gehässig geworden. Die Entbehrungen der Coronapandemie haben weiter dazu beigetragen. Wir sind dünnhäutiger geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir darauf achten, wie wir miteinander und übereinander reden. Denn Worte sind nicht einfach Schall und Rauch. Worte hinterlassen Spuren beziehungsweise Narben. Worte haben Wirkung, sowohl im negativen als auch im positiven Sinn. Dazu eine Geschichte: Eines Tages bat eine Lehrerin ihre Schüler, die Namen aller anderen Schüler auf ein Blatt Papier zu schreiben. Dann sagte sie, sie sollten hinter jeden Namen etwas Positives über die Klassenkollegin schreiben. Sie machte daraus für jeden und jede eine Liste mit diesen wohlwollenden Worten und verteilte sie der Klasse wieder. Schon nach kurzer Zeit lächelten alle. «Wirklich?», hörte man flüstern. «Ich wusste gar nicht, dass ich irgendjemandem was bedeute!» und «Ich wusste nicht, dass mich andere so mögen», waren die Kommentare. Niemand erwähnte danach die Listen wieder. Die Lehrerin wusste nicht, was die Schüler damit machten. Einige Jahre später war einer der Schüler gestorben und die Lehrerin ging zu seiner Beerdigung. Nach dem Begräbnis waren die meisten von Marks früheren Schulfreunden versammelt. Marks Eltern waren auch da: «Wir wollen Ihnen etwas zeigen», sagte der Vater. «Das wurde in Marks Portemonnaie gefunden, als er verunglückte. Wir dachten, Sie würden es erkennen.» Er zeigte ihr ein stark abgenutztes Blatt, das offensichtlich zusammengeklebt, viele Male gefaltet und auseinandergefaltet worden war. «Wir möchten Ihnen so sehr dafür danken, dass Sie das gemacht haben», sagte Marks Mutter. «Wie Sie sehen können, hat Mark das sehr geschätzt.» Alle früheren Schüler versammelten sich um die Lehrerin. Charlie lächelte ein bisschen und sagte: «Ich habe meine Liste auch noch. Sie ist in der obersten Schublade in meinem Schreibtisch.» Heinz’ Frau sagte: «Heinz bat mich, die Liste in unser Hochzeitsalbum zu kleben.» «Ich habe meine auch noch», sagte Monika, «sie ist in meinem Tagebuch.» Dann griff Irene, in ihren Taschenkalender, zeigte ihre abgegriffene und ausgefranste Liste den anderen und meinte dann: «Ich glaube, wir haben alle die Listen aufbewahrt.»Marcel WildiPfarrer in Widnau

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