13.11.2021

«Wir werden nie Impf-Spitzenreiter»

Ausserrhoden hat eine der tiefsten Impfquoten, aber zugleich eine der höchsten Ansteckungszahlen der Schweiz. Regierungsrat Yves Noël Balmer spricht im Interview über die Aussichten, die laufende Aktionswoche und die Covid-Abstimmung im November.

Von Interview: David Scarano
aktualisiert am 03.11.2022
Interview: David ScaranoAusserrhoden gehört bei der Impfquote zu den Schlusslichtern in der Schweiz. Bislang sind 57,10 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, nur Innerrhoden, Obwalden und Schwyz weisen tiefere Werte auf. Bei den Neuansteckungen sind diese Kantone hingegen Spitzenreiter. Die 14-Tage-Inzidenz (auf 100 000 Einwohner hochgerechnet) beträgt für Ausserrhoden 688. Nur Innerrhoden und Schwyz haben mehr Coronafälle. Vor einer Woche haben die Ostschweizer Kantone über die Massnahmen informiert, mit denen sie in der laufenden Aktionswoche die Impfquote erhöhen möchten. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat eine der tiefsten Impfquoten der Schweiz, dafür weist er eine der höchsten Corona-Inzidenzzahlen auf. Das ist eine schlechte Kombination. Wie besorgt sind Sie? Yves Noël Balmer: Wir sind zunächst dankbar, dass es uns vor dem Herbst gelungen ist, die Fall- und Hospitalisierungszahlen zu senken. Jetzt steigen die Zahlen wieder. Die Erfahrung zeigt, dass in zwei oder drei Wochen die Hospitalisierungen ebenfalls zunehmen werden. Die Situation treibt mich aktuell und im Vergleich zur ersten Welle aber weniger um. Wir müssen leider damit leben lernen. Nichtsdestotrotz sind wir bereit, mit der Impfwoche noch einmal einen grossen Aufwand zu leisten, um die Quote zu erhöhen. Was steht Ausserrhoden bevor? Wir haben die Erfahrung aus dem vergangenen Jahr. Mit den sinkenden Temperaturen halten sich die Menschen vermehrt im Innern auf, damit nehmen die Ansteckungen zu. Wir sind aber nicht auf dem Niveau des Vorjahres, bei weitem nicht. Knapp 60 Prozent der Ausserrhoderinnen und Ausserrhoder sind vollständig geimpft. Das hilft uns. Wir wissen zudem, welche Massnahmen funktionieren und welche nicht. Im vergangenen Jahr gab es zudem kein Zertifikat. Auch dieses hilft uns im Kampf gegen Corona. Dann ist die Situation doch nicht so schlimm? Doch. Rein mathematisch reicht ein Anteil von 40 Prozent Nicht-Geimpfter, um die Kapazität in den Intensivstationen an den Anschlag zu bringen. Davor fürchte ich mich. Wie gut ist Ausserrhoden auf ein solches Szenario vorbereitet? Es wurde Kritik laut, dass das geschlossene Spital Heiden fehlen wird. Das Spital Heiden hatte keine Intensivstation. Es hat daher nur bedingt bei der Pandemiebekämpfung geholfen. Wir haben in Herisau sechs Plätze auf der Intensivstation, davon sind drei mit Beatmungsgeräten ausgestattet. Wir sind daher nach wie vor schnell auf ausserkantonale Plätze angewiesen. Die Zusammenarbeit zwischen privaten Kliniken und öffentlichen Spitälern bleibt eng. Die Privatanbieter stehen bereit, wenn es auf den Allgemeinstationen mehr Betten brauchen würde. Wir könnten in kurzer Zeit bis zu 200 Betten zur Verfügung stellen. Von einer Herdenimmunität ist Ausserrhoden weit weg. Hegen Sie persönlich noch Hoffnung, dass die Impfquote signifikant steigt? Oder war’s das? Markus Schmidli, Ausserrhoder Kantonsrat und stellvertretender Kantonsarzt in Innerrhoden, sagte kürzlich, wer sich impfen lassen wollte, habe dies längst getan. Ich mache mir nichts vor. Wir werden nie zu den Impf-Spitzenreitern unter den Kantonen gehören, auch nach dieser Aktionswoche nicht. Der Regierungsrat hat nach den Sommerferien das Impfziel für Oktober auf 60 Prozent festgelegt. Das haben wir nicht ganz geschafft. Ich hoffe, dass wir wenigstens dieses nach der Impfwoche erreichen. Wir werden wohl aber stets eine Quote von Nicht-Geimpften von 35 bis 40 Prozent haben. Das ist leider die Realität. Ich wünsche mir sehr, dass nochmals ein Ruck durch die Ausserrhoder Gesellschaft geht, damit wir gut durch den Winter kommen. Warum schafft es Appenzell Ausserrhoden nicht, eine bessere Quote zu erreichen? Wir müssen uns ja nicht mit Portugal vergleichen, wo über 80 Prozent der Bevölkerung geimpft ist. Aber auch in Graubünden ist die Quote höher als in Ausserrhoden. Ein Vergleich zwischen Ausserrhoden und Graubünden ist meiner Meinung nach schwierig. Der Tourismus hat dort einen hohen Anteil am kantonalen Bruttoinlandprodukt. Es war einfacher, die Bevölkerung zu überzeugen, dass, wenn sie den Tourismus und Wirtschaft ankurbeln möchte, sie sich dafür impfen und testen lassen müsse. Diesen Hebel haben wir nicht, da der Tourismus bei uns nicht diese wirtschaftliche Bedeutung hat. Das kann aber nicht der einzige Grund sein. In Appenzell Ausserrhoden sind Naturverbundenheit und Naturheilkunde grosse Faktoren. Viele sind der Überzeugung, dass man bereits über ein starkes Immunsystem verfügt und daher auf eine Impfung, die als Mittel der Schulmedizin angesehen wird, verzichten könne. Das ist kein neues Phänomen. Bereits bei der Masernbekämpfung hatten wir einen schleppenden Verlauf bei den Impfungen. Das wissen wir als Ausserrhoder Regierung, wir kennen die Bevölkerung, das müssen wir akzeptieren. Aber wie gesagt: Das heisst nicht, dass wir nichts mehr machen. Das Hauptinstrument der anstehenden Impfwoche ist deshalb die Information. Wir wollen faktenbasiert die Ausserrhoderinnen und Ausserrhoder über den Nutzen der Impfung informieren. Wir wollen so Fehlinformationen entgegenwirken. Das kommt doch reichlich spät. Fehlinformationen über die angebliche Stärke des eigenen Immunsystems und über die Impfstoffe kursieren schon lange. Im Kampf gegen Corona wirkten die Schweiz und Ausserrhoden nicht zum ersten Mal sehr zurückhaltend. Hat der Kanton zu wenig getan? Nein, das finde ich nicht. Die Erfahrungen aus anderen politischen Fragen zeigen, dass wir in Ausserrhoden stets vorsichtig sein müssen. Druck ist kontraproduktiv, auch bei den Impfungen. So werden wir in der Impfwoche nicht proaktiv telefonisch die Bevölkerung kontaktieren. Wir stellen eine Hotline zur Verfügung. Wer Fragen hat, kann dort anrufen und wird von Fachpersonen informiert. Unser Ziel ist, die Bevölkerung mit Information und einfachen Angeboten zur Impfung zu motivieren, damit sie ihre Entscheidung sachlich fällen kann. Am Montag starteten die Boosterimpfungen. Zunächst hat man diese kommunikativ geschwächt, und nun ruft man die Bevölkerung dazu auf. Das ist widersprüchlich. Wir befinden uns nach wie vor in einer Krise. Zum Teil müssen die Behörden rasch Entscheide treffen, obwohl die Faktenlage dünn ist. Eine widersprüchliche Kommunikation ist aber sicherlich nicht optimal. Die Auffrischungsimpfungen sind für vulnerable Personengruppen wichtig – und diese werden dazu aufgerufen. Der Grossteil der Bevölkerung braucht die Auffrischungsimpfung derzeit aber noch nicht. Der Schutz der ersten zwei Impfungen hält nach wie vor an. Auffallend ist auch: Der Ausserrhoder Regierungsrat blieb in der Impfkampagne unsichtbar. Er gibt kein Foto eines Mitglieds der Regierung während seiner Impfung. Wenn die Regierung die Impfung als entscheidendes Mittel gegen die Pandemie sieht, warum wollte sie nicht Vorbild und Vorkämpferin sein? Alle Mitglieder der Ausserrhoder Regierung sind doppelt geimpft – aus Überzeugung. Wir wollten uns aber nicht medial inszenieren, wir haben das diskutiert. Das Impfen ist im Endeffekt ein privater Akt. Es liegen zudem genügend Fakten vor, warum das Impfen im Kampf gegen Corona sinnvoll ist. Was unternimmt die Ausserrhoder Kantonsregierung nach dieser Impfwoche? Wir werden das Impfangebot aufrechterhalten. Die Impfzentren bleiben vorerst offen, auch die Hausärzte werden weiter impfen. Aber irgendwann müssen wir das Angebot auf die sonst üblichen Impfmöglichkeiten zurückfahren. Ende November stimmt die Schweiz über das Covid-19-Zertifikat ab. In vielen Ausserrhoder Gemeinden sind Plakate der Gegner sichtbar. Befürworter sind noch keine auf dem Platz. Was halten Sie davon? Es ist besorgniserregend. Es wäre verheerend, wenn die Bevölkerung bei der tiefen Impfquote auch noch das Covid-Zertifikat ablehnen würde. Nicht nur die Parteien sind gefordert. Es wäre gut, wenn auch die kantonale Wirtschaft sich stärker und sichtbarer engagieren würde. Unter einer Abschaffung dieses wirkungsvollen Instruments gegen die Pandemie würde sie leiden. Auch die Gastrobranche bekäme dies bitter zu spüren.

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