06.03.2020

«Wir haben keine Angst»

Das Coronavirus bedroht vor allem alte Menschen. Wie geht ein Altersheim wie das Haus Viva damit um?

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Zur Begrüssung reiche ich die Hand. Ein anerzogener Reflex, bis vor zehn Tagen ein Zeichen des Anstands. In Zeiten des Coronavirus aber ein Fauxpas. Miriam Steiger, stellvertretende Leiterin Pflege und Betreuung im Haus Viva, lächelt und sagt: «Wichtig ist sicher, nach jedem Kontakt die Hände zu desinfizieren.»Heimleiter Urs Trinkler erklärt, dass das Haus Viva mehr Desinfektionskästen und an allen möglichen Orten die Plakate mit Hygienevorschriften aufgestellt hat. «Wir halten uns an die Vorschriften des Bundesamtes für Gesundheit», sagt Trinkler. Die bestehenden Kontakte zu Infektologen, anderen Altersheimen, Heimarzt und Kantonsarzt werden intensiviert. «Wir nehmen die Bedrohung wahr», sagt der Heimleiter, «aber Massnahmen wie Besuchsverbote, die es gibt, schiessen übers Ziel hinaus. Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Altersheims sind freie Menschen.» Sie von sozialen Kontakten abzuschneiden, bedeute, sie einzusperren.Massnahmen einleiten, aber nicht Unruhe schürenDie Strategie: «Die Pandemie ernst nehmen, Massnahmen der Behörden und anderer Stellen genau beobachten, aber keine Unruhe schüren.» – «Wir sind den Schutz vor Virenbefall gewohnt, gerade im Winter mit Influenza (herkömmliche Grippe, d. Red.) und Norovirus», sagt Stephanie Baertsch, Leiterin Hauswirtschaft. Das Personal sei sensibilisiert, mit dem Coronavirus sei dieses Bewusstsein allerdings nochmals intensiver geworden. Baertsch schildert: «Zusätzlich zu unseren Kanälen informiere ich mich auch über die Medien, damit ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter detailliert informieren kann.»Ernst nehmen, Lage beobachten, aber keine Panik schüren. Die Haltung des Hauses Viva teilen in groben Zügen auch andere angefragte Rheintaler Altersheime. Die Heimleiter Bernhard Handke (Städtli, Berneck), Martina Künzler (Fahr, St. Margrethen) und Markus Bertschi (Hof Haslach, Au) betonen wie Trinkler vom Haus Viva die Zusammenarbeit mit dem kantonalen Gesundheitsamt. Die nahezu täglichen Informationen geben Trinkler Vertrauen in die Arbeit des Kantons.Das Personal im Haus Viva wird regelmässig informiert. Aber was geschieht mit den Bewohnerinnen und Bewohnern? Sie bekommen die Vorkehrungen im Altersheim mit, Miriam Steiger und Stephanie Baertsch werden in der täglichen Arbeit darauf angesprochen. Steiger sagt: «Einige lachen darüber. Gestern etwa hat mich eine Frau scherzhaft mit einem Ellenbogen-Stupser begrüsst.»Das Durchschnittsalter der Bewohner beträgt 88 Jahre. Die Sterberate bei Virus-Infizierten steigt mit zunehmendem Alter exponentiell an. «Die höhere Mortalität von alten Menschen ist eine Tatsache, die auch bei der Influenza bekannt ist», sagt Miriam Steiger. An grippebedingte Todesfälle im Haus Viva können sich die drei Gesprächspartner nicht erinnern.Ängstigen sich Seniorinnen und Senioren, weil am stärksten betroffen, besonders vor dem Coronavirus? Eine Bewohnerin ist Silvia Studer. Sie hat gehört, dass Menschen unverderbliche Lebensmittel in grossen Mengen gekauft haben. Ihre Tochter reise nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln: «Sie macht sich grosse Sorgen um mich. Aber ich sage immer: Wir Alten haben unser Leben schon gelebt. Viel eher sorge ich mich um die Gesundheit meiner Tochter.»Claire Rechsteiner, mit 72 Jahren eine der jüngsten Bewohnerinnen des Hauses Viva, hat ebenfalls keine Angst. Sie vertraut dem Personal des Altersheims, dass das Virus fernbleibt: «Hier ist immer alles so sauber, die Angestellten schauen gut für uns. Und wir gehen ja nicht mehr unter die Leute – diese Ansteckungsgefahr fällt weg.»Die Auswirkungen des Virus auf die Gesellschaft sind in der «Viva»-Cafeteria bekannt. Die Seniorinnen und Senioren informieren sich im Fernsehen, einige lesen auch Zeitung. Liselotte Eugster, die mit Claire Rechsteiner und Silvia Studer am Tisch sitzt, hat von einem Besuchsverbot in einem anderen Altersheim gehört: «Das wäre furchtbar. Die Besuche von Verwandten können sie uns doch nicht wegnehmen – wenn wir schon hier sein müssen.»Das ist nicht gegen das Heim gerichtet, Liselotte Eugster spricht damit an, was Urs Trinkler mit Lebensqualität umschreibt. Die Devise im Haus Viva ist: «Freiheit kommt vor Sicherheit – solange die Sicherheit gewährleistet ist.» Das sei wichtig für die Lebensqualität der Senioren. Und für viele gehören Kontakte zu Menschen ausserhalb des Heims dazu.Auch ein Jass kann das Lebensgefühl steigern: Ein paar Meter weiter spielen Blandina Hensel und Blanca Kobler – beide haben ihren 90. Geburtstag schon gefeiert – mit zwei anderen Frauen Schieber. «Wir waschen die Hände regelmässig und fassen einander nicht an», sagen beide. Die Jasskarten fassen sie aber an. «Die sind sauber», sagt Blanca Kobler.Junge Leute stärker von Massnahmen betroffenAuch die leidenschaftlichen Jasserinnen – zweimal pro Woche kommen die Karten auf den Tisch – verfolgen die Diskussion ums Coronavirus. Massnahmen wie das Veranstaltungsverbot haben die in den 1920er-Jahren geborenen Frauen bisher nicht erlebt. «Das trifft die jungen Menschen, ich gehe ja nicht an Fussballspiele», sagt Blanca Kobler. Grosse Sorgen macht sie sich nicht: «Aber man denkt schon darüber nach, wenn man Meldungen wie jene vom ersten Todesfall in der Schweiz hört.» Blandina Hensel nickt: «Aber Angst habe ich nicht, solange das Virus im Haus nicht ausbricht.»Auch Andreas Bischofberger wirkt nicht verängstigt. Er kommt gerade von einem Spaziergang heim. Auf Nachfrage verrät er seine pragmatische Strategie gegen die Infektionsgefahr: «Einen Schnaps trinken.» Das Hochprozentige soll im Innern desinfizieren.

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