24.12.2020

«Wir betreuten viele Schwerkranke»

Als Spitalseelsorger erlebt Michael Seitz die Auswirkungen der Pandemie aus nächster Nähe.

Von Interview: Yann Lengacher
aktualisiert am 03.11.2022
Einfach Mensch sein müsse man manchmal. So beschreibt Michael Seitz seine Arbeit im Spital und der psychiatrischen Klinik in Herisau. Seit nunmehr 10 Jahren finden Patienten und deren Angehörige ein offenes Ohr beim evangelischen Spitalseelsorger, manchmal auch das Spitalpersonal. 2020 war für Seitz ein intensives Jahr. An Heiligabend hat er nochmals einiges zu tun, seine Gedanken kreisen um den Gottesdienst in der Klinik und seine Weihnachtspredigt. Vor dem Interview ist ihm aber keine Spur von Stress anzusehen. Gut gelaunt grüsst er und präsentiert sogleich sein Velo, als sei es das Normalste auf der Welt. Das Velofahren ist Seitz’ Passion und bietet ihm den Ausgleich zu einer Arbeit, die ihn auch mit harten Schicksalen konfrontiert.Wie empfanden Sie die Etappe 2020? Michael Seitz: Zum Teil war es eine steile Passfahrt mit vielen Unsicherheiten, aber zum Glück auch mit entspannten Momenten. Anfang Jahr war zeitweise unklar, ob ich meine Arbeit als Seelsorger noch machen darf. Und dann war es auch intensiv, besonders während der ersten Coronawelle. Wir hatten da viele Schwerkranke zu betreuen – nicht nur Coronafälle.Haben Sie viele Corona-Patienten mit schweren Krankheitsverläufen begleitet?  Ich habe sehr wenige Corona-Patientinnen und -Patienten mit schweren Verläufen besucht, und nur wenn diese ausdrücklich einen Besuch gewünscht haben. Ich organisiere mich so, dass ich danach alleine in meinem Büro arbeite. Diese Massnahmen sollen die Menschen in meinem Arbeitsumfeld schützen. Ich habe grossen Respekt vor dieser Krankheit, die unberechenbar sein kann und über die vieles noch im Ungewissen liegt.Wie ist es für Sie, einem Menschen mit einem schweren Krankheitsverlauf zu begegnen? Wenn sich ein Mensch in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet, versuche ich mich unabhängig von der Krankheit in seine Lage einzufühlen. In einer solchen Situation will ich für die Person da sein. Gleichzeitig muss ich eine gewisse Distanz zu den Menschen wahren, sonst kann ich nicht Seelsorger sein. Als Seelsorger ist man immer auf einer Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe.Wie hat Corona ihre Arbeit im Spital verändert? Die Situation erfordert viel  Vorsicht meinerseits, privat und beruflich. Es gilt, eine Infektion zu vermeiden. Glücklicherweise unterstützt mich Iris Schmid- Hochreutener als katholische Spitalseelsorgerin. So können wir alle besuchen, die dies wünschen. Gleichzeitig halten wir die Anzahl Kontakte zu Corona-Patientinnen und -Patienten tief. Das ist notwendig, weil ich im Psychiatrischen Zentrum auf Hochrisikopatientinnen und -Patienten treffe. Mussten Sie sich dieses Jahr mit dem Thema Triage befassen? Glücklicherweise nicht! Wir können nur hoffen, dass solche Situationen bei uns nie eintreffen, da sie für die Entscheidungsträger mit einer enormen seelischen Belastung verbunden sind. Sie betreuen auch Menschen auf der Palliativstation. Wie bereitet man einen Menschen auf den Tod vor? Im Grunde genommen kann sich jeder Mensch nur selbst auf seinen Tod vorbereiten. Das kann uns niemand abnehmen! Schön ist es, wenn Menschen nach einem erfüllten Leben loslassen können. Mir begegnen im Appenzellerland gar nicht so selten Menschen, die im Laufe ihres Lebens zu einer entspannten Einstellung zur Endlichkeit des Lebens finden konnten. Sie stehen ihrem baldigen Tod gelassen gegenüber. Solche Situationen sind nicht machbar. Aber sie sind berührend.Mit welchen Fragen kommen Patienten zu Ihnen? Die Fragen sind vielfältig und hängen oft mit der Lebenssituationen der Patienten zusammen. Es kommen sehr unterschiedliche Menschen ins Spital, jede und jeder ist anders. Oft sprechen wir über alltägliche Dinge: Jüngere Menschen fragen sich bei einem plötzlichen Spitalaufenthalt, wie sie ihren Berufsalltag organisieren. Ältere Menschen kann es beschäftigen, dass sie über längere Zeit auf Hilfe angewiesen sind. Werden Sie oft gefragt, was nach dem Tod kommt?  Diese Frage kommt relativ wenig. Viel mehr höre ich sehr praktische Fragen, gerade von Seiten der Angehörigen. Sie fragen sich beispielsweise, wie sie mit dem Tod oder der Pflegebedürftigkeit eines Verwandten umgehen soll. Oft fürchten sich Angehörige davor, Fehler zu begehen, und haben darum Fragen.Haben Sie immer eine Antwort bereit? Nein, wie sollte ich auch? Wenn ich mit einem unbekannten Menschen ins Gespräch komme, höre ich zunächst zu. Ich frage mich, was nun von mir erwartet wird. Häufig ergibt sich eine Antwort im Gespräch. Manchmal spüre ich, wie die anfängliche Anspannung im Raum plötzlich verfliegt. Das ist jeweils eine schöne Erfahrung. Gelegentlich spreche ich einen Segen. Viele Patientinnen und Patienten schätzen diese Stärkung vor einer Operation oder in einer anderen herausfordernden Situation. Fragten dieses Jahr mehr Spitalmitarbeitende um ihren Rat? Man liest häufig von der hohen Belastung im Gesundheitswesen. Leider lässt der Zeitdruck in der Pflege nur kurze persönliche Begegnungen zu. Glücklicherweise kann ich mich trotzdem immer wieder mit Mitarbeitenden austauschen. Im Spitalverbund gibt es seit diesem Frühling eine Corona-Stress-Hotline. Psychiater, Psychotherapeuten und Seelsorgende bieten da telefonische Hilfe für Mitarbeitende an. Das Personal leistet wirklich Aussergewöhnliches. Dazu zählt übrigens auch das Reinigungspersonal, das in den Medien kaum thematisiert wird. Seine Arbeit ist genauso wichtig wie diejenige der Pflegenden. Ihr innigster Weihnachtswunsch?  Ich wünsche mir, dass alle Patienten im Spital und der psychiatrischen Klinik einigermassen schöne Weihnachten verbringen dürfen. Den Mitarbeitern wünsche ich, dass sie trotz der Hektik ruhige Momente und Besinnung erleben.

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