18.12.2021

«Wir alle müssen uns einen Ruck geben»

Die Coronasituation spitzt sich zu. Gesundheitsdirektor Yves Noël Balmer über drohende Triage, 2G und das heikle Thema Kinderimpfung.

Von Interview: David Scarano
aktualisiert am 02.11.2022
Interview: David ScaranoVor der nationalen Impfwoche waren Sie eher zurückhaltend. Sie warnten vor einem «Impfmobbing». Nun verschärfen Sie den Tonfall. Haben Sie die Entwicklung unterschätzt?Yves Noël Balmer: Mir war immer klar, dass die 40 Prozent der Ausserrhoder Bevölkerung, die ungeimpft sind, ausreichen, um unsere Intensivstationen an ihre Grenze zu bringen. Das haben wir nie unterschätzt und es auch immer wieder so kommuniziert. Nichtsdestotrotz sind die 40 Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen, eine Realität. Ungeimpfte Personen als Übel darzustellen, ist für mich keine Lösung des Problems, sondern eine Verhärtung der Fronten. Wir alle müssen uns einen Ruck geben, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Was aber gar nicht geht, ist, wenn Ungeimpfte meinen, sie müssen sich auch nicht an die Regeln halten. Man gibt sich die Hand, trifft sich dann eben privat auf ein Bier ohne auf die geltenden Regeln, die das Risiko einer Ansteckung vermindern, acht zu geben. Das geht nicht. Wir müssen uns alle an die Regeln halten, um die Ausbreitung einzudämmen.Warum ist die Situation jetzt so besorgniserregend?Die Belegung der Intensivstationen (IPS) ist die grosse Problematik. Seit mehreren Wochen sind 40 bis 60 Prozent der Intensivpflegeplätze in den für Ausserhoden relevanten Spitälern in Herisau und St. Gallen mit an Covid-erkrankten Patientinnen und Patienten belegt. Aber das normale Leben findet dennoch statt. Und da passieren Dinge, für die es eben auch die IPS braucht, zum Beispiel bei einem schweren Hirnschlag oder bei schweren Verletzungen nach einem Unfall. Es ist schlimm, wenn ein IPS-Platz benötigt wird und es zur Herausforderung wird, einen freien Platz zu finden. Wenn die Fallzahlen in den Intensivstationen Covid-bedingt weiter ansteigen, wird die Triage Realität. Dies bedeutet in aller Deutlichkeit ausgesprochen: Patientinnen und Patienten, die wegen einer Krankheit oder Verletzung einen IPS-Platz benötigen, würden diesen unter Umständen nicht bekommen und auf die allgemeine Station ohne Intensivpflege verlegt. Die Sterblichkeit wird sowohl steigen.Was droht uns nun mit der Omikron-Variante? Experten warnen davor, dass die Schweiz gleich zwei Wellen parallel erleben könnte.Bezüglich Omikron ist aktuell noch einiges nicht gesichert. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob die Omikron-Variante gleich «aggressiv» ist wie die Delta-Variante und ob die Schutzwirkung der aktuell zugelassenen Impfstoffe bei der Omikron-Variante gleich hoch ist. Wir müssen derzeit bei einer schnellen Verbreitung von Omikron davon ausgehen, dass es neben den vielen Delta-Infektionen in einigen Wochen auch zahlreiche Omikron-Infektionen gibt. Wenn beide Virusvarianten gleichzeitig so stark verbreitet sind, wäre die Situation äusserst herausfordernd.Ausserrhoden weist bei den Neuinfektionen mit die höchste Inzidenz auf. Warum hat die Regierung keine schärferen Massnahmen beschlossen? Nicht zum ersten Mal fallen die Ostschweizer Kantone durch zaghaftes Verhalten auf.Die Wertung zaghaft würde ich nicht unterstützen. Der Ausserrhoder Regierungsrat hat nach den Sommerferien kommuniziert, dass unser «Alarmwert» die Belegung der Intensivpflegeplätze ist. Sprich, wenn die IPS-Plätze drohen, knapp zu werden, muss zusätzlich kantonal gehandelt werden. Der Regierungsrat liess sich – auch in den weniger angespannten Phasen – mindestens einmal wöchentlich informieren. Ich selber bin täglich im Kontakt mit meinen Fachpersonen im Departement. Per 3. Dezember 2021 beschloss dann der Regierungsrat zusätzliche Massnahmen. Ob es rechtzeitig oder zu spät war, kann erst im Nachhinein beurteilt werden. Wichtig ist, dass vorgängig immer eine Koordination mit den Nachbarkantonen und dem Bund stattfindet, das ist uns sehr wichtig. Eine Kantonsregierung muss nicht nur die Aspekte der physischen Gesundheit bei der Bewältigung der Pandemie berücksichtigen. Die Pandemie zeigt uns je länger umso deutlicher die weiteren Auswirkungen auf die Gesellschaft, auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung, auf Unternehmen und auch Arbeitnehmende, die Lohnkürzungen verkraften müssen.Stossend ist, dass die Kantone zwar vom Bund Massnahmen verlangen, in der Konsultation diese dann aber zerzausen. Wie erklären Sie sich dieses widersprüchliche Verhalten?Dies kann in der Tat als Widerspruch verstanden werden, aber nur auf den ersten Blick. Die Kritik an den vorgeschlagenen Massnahmen des Bundes bezog sich primär auf deren Umsetzung. Für den Vollzug der Massnahmen sind die Kantone verantwortlich und diese haben sich gewehrt bei Massnahmen, deren Vollzug unmöglich war.Sie haben sich früher vehement gegen einen Lockdown der Ungeimpften, wie ihn etwa Österreich beschlossen hat, ausgesprochen. Sind Sie angesichts der sich zuspitzenden Lage immer noch gegen solche Massnahmen?Die Frage ist, wie man einen Lockdown definiert. Wenn Ungeimpfte nicht mal mehr einkaufen könnten, bin ich persönlich nach wie vor dagegen. Aber die 2G-Regelung, die am Freitag höchstwahrscheinlich vom Bundesrat beschlossen wird, begrüsse ich genauso wie der gesamte Regierungsrat. Die 2G-Regelung würde in der Gastronomie, der Kultur und dem Sport zur Anwendung kommen. In der aktuellen Lage müssen wir die Kontakte wieder reduzieren, insbesondere dort, wo sich ungeimpfte Personen einem höheren Ansteckungsrisiko aussetzen. Um die Kapazitäten der IPS aufrechthalten zu können, müssen vor allem Ungeimpfte vor einer möglichen Ansteckung geschützt werden. Die grosse Mehrheit der auf der Ausserrhoder und St. Galler IPS liegenden, an Covid-erkrankten Personen sind ungeimpft.Schulen entpuppen sich als Pandemietreiber. Ist es ein Fehler, dass Ausserrhoden den Lead weitgehend den Gemeinden überlässt?Die Schulen als Pandemietreiber zu bezeichnen, ist undifferenziert. Treiber ist das Virus und seine neuste Variante. Kinder können sich mit dem Virus anstecken und geben ihn weiter. Dass sich Personen mit dem Virus anstecken und ihn weitergeben, geschieht in vielen Bereichen. Wir wissen aber, dass in den Schulen ein erheblicher Teil der Ansteckungen passiert. In unserem Kanton liegt die Hoheit über die Volksschulen bei den Gemeinden. Das Departement Bildung und Kultur ist regelmässig in engem Austausch mit den Schulgemeinden und verfolgt eine differenzierte Strategie.Braucht es eine Testpflicht in den Schulen?Seit das Departement Bildung und Kultur bestimmt hat, dass jede Schule verpflichtet ist, Spucktests anzubieten, dass also das serielle Testen in allen Schulgemeinden angeboten werden muss, funktioniert es überall. Schon vorher hat es an vielen Orten gut funktioniert. Es gibt aber keine gesetzliche Grundlage für eine Testpflicht für alle schulpflichtigen Kinder. Genauso wenig wie es in der Schweiz ein Gesetz gibt, durch das eine allgemeine Impfpflicht verfügt werden könnte. Aber logisch: Je mehr Personen sich testen und impfen lassen, umso schneller finden wir aus der Pandemie heraus.Sollen sich Kinder impfen lassen?Impfen bei Kindern ist eine äusserst emotionale Diskussion. Als Vater eines eineinhalbjährigen Sohnes kenne ich diese. Im Grundsatz gilt bei Kindern das Gleiche wie bei Erwachsenen. Die Zulassung für einen Impfstoff ist Teil eines strengen Verfahrens bei Swissmedic. Dass nun erst ein Jahr nach der Zulassung für Erwachsene die erste Zulassung eines Impfstoffs für Kinder erteilt wurde, zeigt, dass hier genau geprüft wurde. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt klar und deutlich die Impfung für Kinder. Die Kinderimpfung wird wie bei den Erwachsenen erfolgen. Zuerst werden Kinder geimpft, die Vorerkrankungen haben und ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf bei einer Covid-Erkrankung aufweisen. In einem zweiten Schritt werden Kinder geimpft, die engen Kontakt mit Risikopersonen haben und dann steht die Impfung für alle Kinder offen. Kinder zwischen 5 und 12 Jahren brauchen das Einverständnis der Eltern. Aus meiner Sicht ist ein Druck auf die Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen, wohl eher kontraproduktiv. Auch wenn es einige immer noch nicht wahrhaben wollen: Jede Impfung zählt, den Weg aus der Pandemie zu finden, auch jede Impfung für Kinder.Zurück zur allgemeinen Lage: Reicht die vom Bundesrat vorgeschlagene 2G-Regel?Ob das ausreichen wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Nach bald zwei Jahren Pandemie habe ich als Gesundheitsdirektor gelernt, wie schnell sich die Lage ändern kann. Nehmen die Fallzahlen und Hospitalisierungen ab, wollen alle möglichst schnell wieder Lockerungen. Mit der Folge, dass in kurzer Zeit die Fallzahlen wieder steigen. Ich bin überzeugt, dass wir – falls der Schutz der Impfungen auch bei der Omikron-Variante Bestand hat – mit der 2G-Regel die aktuelle fünfte Welle brechen können. Wenn sich alle konsequent an die geltenden Hygiene- und Abstandsregelungen halten würden, würde es unabhängig von der Virusvariante zu viel weniger Ansteckungen kommen.Das Impfen gilt als wichtigstes Ins-trument gegen die Pandemie. In Ausserrhoden bleibt die Impfquote tief. Enttäuscht Sie das?Klar wäre es für alle deutlich einfacher, wenn die Impfquote höher wäre. Die aktuelle fünfte Welle zeigt, dass die hohen Ansteckungszahlen in der Ost- und der Innerschweiz einen direkten Zusammenhang mit der unterdurchschnittlichen Impfquote haben. Nicht alle haben den Ernst der Lage erkannt – diejenigen, die die Pandemie nicht wahrhaben wollen; die, die sich nicht impfen lassen und die, die sich über die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie hinwegsetzen. Dies ärgert mich, weil es die Pandemie unnötig verlängert und damit all die Einschränkungen, die sich niemand wünscht.Eine Impfpflicht wurde bis anhin in der Schweiz als nicht durchsetzbar betrachtet. Andere Länder sehen sich gezwungen, eine solche einzuführen. Braucht die Schweiz nun auch eine Impfpflicht?Aktuell gibt es in der Schweiz keine gesetzliche Grundlage für eine allgemeine Impfpflicht. Eine allgemeine Impfpflicht wäre aus meiner Sicht ein schwerer Eingriff in die persönlichen Rechte. Ich glaube nicht an die entscheidende Wirkung einer allgemeinen Impfpflicht – zu viel Druck provoziert nur Widerstand und das bringt uns nicht weiter.Wenn eine Impfpflicht nicht durchsetzbar ist und sich 40 Prozent der Ausserrhoder nicht impfen lassen wollen, was bedeutet dies für die Zukunft?Das bedeutet, dass viele Personen erst nach Erkrankungen immun werden, dass es viel Leid vor allem unter den Ungeimpften geben wird und dass wir alle – ob geimpft oder ungeimpft – auf unbestimmte Zeit neue Ansteckungswellen und Einschränkungen aushalten müssen.Zuletzt dies: Welchen Appell wollen Sie an die Ausserrhoderinnen und Ausserrhoder richten?Wenn es uns Ausserrhoderinnen und Ausserrhodern ernst ist, wirklich ernst ist, die Pandemie zu bewältigen, dann müssen wir alle die Massnahmen einhalten. Auch die Bedürfnisse der einzelnen müssen für eine Zeit lang zum Wohl der Gemeinschaft zurückgestellt werden. Wir lassen uns impfen, reduzieren unsere persönlichen Kontakte, tragen Masken, waschen Hände, halten Abstand und lüften regelmässig. Damit tragen wir uns und unseren Nächsten Sorge – und der ganzen Gemeinschaft.

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