09.05.2021

«Wie kann man mit dem Virus leben?»

Allgemeinmediziner Harry Petridis sieht in der Impfung die einzige Lösung, wieder in eine Art Normalität zurückzufinden.

Von Reto Wälter
aktualisiert am 03.11.2022
2010 stieg Harry Petridis in der Hausarztpraxis von Emil Mattle in Altstätten ein, 2012 übernahm er sie. Petridis ist in Altstätten geboren und aufgewachsen, studierte nach der Matura an der Kantonsschule Heebrugg an der Uni Zürich Medizin. Als Assistenzarzt war er in Rorschach, am Kantonsspital St. Gallen und in Griechenland in der Region von Patras tätig. Dort eröffnete er seine erste eigene Praxis, bevor er nach Altstätten zurückkehrte.Harry Petridis hat zwei fast erwachsene Kinder (17 und 20) und ist verheiratet: «Meine Frau ist auch Ärztin und hat deshalb Verständnis für lange und unkonventionelle Arbeitszeiten.» Nebst dem Praxisalltag, unterstützt von vier Praxisassistentinnen, zwei in Teilzeit, ist der 49-Jährige auch beim hausärztlichen Notfalldienst dabei. Er macht Hausbesuche und geht bei Patienten im Alters- und Pflegeheim auf Visite, zudem amtet er als Schularzt. Beim regionalen Ärztenetzwerk RhyMed ist Petridis im Vorstand.Erste Welle«Als es nach China in Italien losging, verunsicherten besonders die Bilder aus Bergamo. Sie gaben Anlass zur Sorge. Also bereiteten wir uns vor und organisierten Schutzmassnahmen», sagt Harry Petridis. Vorgängig habe er sich überlegt, wie potenziell Infizierte in der Praxis abgeschirmt werden könnten, damit sie für andere Patienten und das Personal keine Gefahr sind.Er hat sich mit anderen Praxen abgesprochen. Besprochen wurde etwa, was und wo mehr desinfiziert werden muss, wie sinnvoll regelmässig gelüftet werden kann. «Ich habe Desinfektionsständer, Plexiglasabtrennungen, Schutzanzüge und Masken bestellt und festgestellt: Es fehlt an genug Material», sagt der Altstätter Arzt. Anderes wiederum war nicht brauchbar, etwa die von der Armee freigegebenen Masken, die bereits vergammelt waren.«Es herrschte eine gewisse Angst, und die bange Frage: Was kommt da wohl auf uns zu?», sagt Petridis und führt aus: «Gerade mit Blick auf Altersheime in Spanien, Frankreich und Italien, gab es hier in Altstätten viele Sitzungen in den Heimen und ich hatte das Pflegepersonal zu instruieren.» Tatsächlich gab es in dieser Phase dann relativ wenig Coronafälle. In der ersten Zeit meldeten sich sehr viele Patienten per Telefon, hatten Fragen zum Virus und zum Umgang damit.Die Konsultationen in der Praxis selber brachen im April 2020 aber um rund 50 Prozent ein. «Es blieben Patienten weg, deren schlechter Gesundheitszustand eigentlich einer regelmässigen Kontrolle bedurft hätte», sagt der Hausarzt. «Deswegen fingen wir sogar an, uns aktiv nach deren Befinden zu erkundigen und fragten nach, ob sie mit ihren wichtigsten Medikamenten versorgt seien.» Die Anzahl Hausbesuche hat deutlich zugenommen. Ebenfalls ging der Arzt bei Leuten mit Covid-Symptomen vorbei, um sie zu testen und zu untersuchen. Dies und die Besuche im Altersheim waren umständlich, galt es doch, Schutzkleidung anzuziehen und bei Verdachtsmomenten in der Praxis die gesamte Kleidung zu wechseln.Weil viele Patienten wegblieben, wurde der Praxisbetrieb reduziert. «Es war durchaus angenehm, einmal mehr Zeit für die Familie zu haben und es etwas ruhiger anzugehen», blickt Harry Petridis zurück.ZwischenzeitIn dieser Phase herrschte ein leicht reduzierter Normalbetrieb. Von Beginn an und bis heute gibt es fast täglich Informationen von Ämtern; Vorschriften und Empfehlungen, die immer wieder ändern und in den Alltag miteinbezogen werden müssen.Zweite WelleVon November bis Februar 2021 war für den Arzt die bisher schwierigste Zeit in der Pandemie. Es gab unter den Patienten Todesfälle zu beklagen, der Umgang mit schweren Verläufen machte Petridis zu schaffen: «Es ist schwierig, wenn man mit den Schwerkranken nur unter starken Schutzmassnahmen in Kontakt treten kann. Zuerst dachte ich, es wäre wohl das Beste, ich würde mich selber infizieren und wäre danach einigermassen geschützt, weil der Körper eine eigene Immunabwehr aufbaut», sagt der Arzt.Er habe sich aber schnell von dieser Vorstellung verabschiedet, habe er doch miterlebt, wie schlimm schwere und langwierige Verläufen sein könnten – die dazu sehr unterschiedlich in den Ausprägungen seien. Ganze Stationen in Altersheimen mussten geschlossen werden. Viele Fälle betreute der Arzt täglich und er bekam mit, wie die Menschen litten, weil ihre Bekannten sie in diesen schwierigen Zeiten nicht besuchen durften.So kamen nach dem Tag in der Praxis und den Heimen Gespräche und die Betreuung Angehöriger dazu. Auch das Pflegepersonal war angeschlagen. Es musste nicht nur unter schwierigen Bedingungen arbeiten, sondern auch mit der Angst leben, sich selber zu infizieren – zumal Arbeitskollegen genau deswegen ausfielen.«Das war psychologisch sehr fordernd, wir versuchten dabei auch einfach, uns gegenseitig aufzubauen», sagt Harry Petridis. «Es war auch nicht immer ganz einfach, zu entscheiden, ab wann es sinnvoll ist, positiv getestete Lungen- oder Herzpatienten ins Spital einzuweisen.» Der Altstätter Arzt gab Sauerstoff-Sättigungsgeräte ab, so konnten die Patienten ihre Werte selber überprüfen.Nach Februar beruhigte sich die Situation und die Impfaktion ging los. Weil zuwenig Impfstoff vorhanden war (und ist), galt es eine Risikoabschätzung vorzunehmen und zu bestimmen, wer den Impfstoff zuerst braucht. «Natürlich gab es diesbezüglich Weisungen, aber es gab zu viele ältere Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Risiko», erklärt Petridis. In den Altersheimen wurden an Impfnachmittagen alle Bewohner durchge-impft, die dies wollten.Auch der Arzt selber ist inzwischen geimpft: «Aus einer Zehnerdosis kann man bei einer genauen Einteilung eine elfte gewinnen. So eine habe ich mir inzwischen gespritzt. Das gibt mir eine gewisse Sicherheit.» Impfung hin oder her, er habe sich von Anfang an gesagt, sollte es zu einem Notfallszenario kommen, würde er die Praxis schliessen und seine Dienste dort anbieten, wo sie am dringendsten gebraucht würden.«Grundsätzlich empfehle ich, sich bei Möglichkeit impfen zu lassen. Corona ist ganz klar nicht mit einer Grippe vergleichbar», sagt der Arzt und erklärt: «Die Gefahr für einen schweren Verlauf ist allgegenwärtig. Langzeitschäden sind nicht absehbar und es gibt Patienten, die mit Schäden an der Lunge weiterleben müssen.» Er gebe zu, dass man auch die Langzeitfolgen der Impfung nicht kenne. «Zum jetzigen Zeitpunkt kann man aber eindeutig sagen, dass ein schwerer Verlauf ein grösseres Risiko für die Gesundheit darstellt, als es die Impfung ist, egal welche», sagt Petridis.Zurzeit läuft die Impfaktion auf Hochtouren, auch wenn noch zu wenig Stoff da ist, um die Nachfrage abzudecken. Gibt es genug Dosen, werden täglich 20 bis 30 Leute geimpft. Der Aufwand dafür sei sehr gross, sagt der Hausarzt. Sind die Impfungen da, müssen die Angemeldeten aufgeboten werden. Da nebenher der Praxisbetrieb läuft, muss der Ablauf genau organisiert werden, da frisch Geimpfte 15 Minuten zur Überwachung bleiben müssen.Danach gilt es, die zweite Impfung innerhalb eines gewissen Zeitraums zu organisieren. Dazu kommen viele Telefonanrufe von Patienten, die Fragen haben. «Mir ist es wichtig, dazu beizutragen, dass die Bevölkerung möglichst schnell geimpft ist», sagt der Doktor. Er erle-be täglich, dass die Patienten den Impfservice beim Hausarzt wertschätzen.Das Finanzielle sei für ihn zweitrangig, aber die Kosten sollten schon gedeckt sein. «Schliesslich verschlingen die Impfzentren Unsummen an Geld und sind nicht einmal voll ausgelastet. Dies für einen Dienst, den unser gutes Schweizer Hausarztmodell eigentlich bestens übernehmen kann.» Bei ihm seien durch den Zusatzaufwand vor allem die organisierenden Praxisassistentinnen sehr stark gefordert. «Mir ist wichtig, dass sie dafür entschädigt werden, und wenn ich dafür persönlich aufkommen muss», findet Harry Petridis.Ausblick«So wie jetzt kann es nicht weitergehen, etwa damit, dass man trotz steigender Fallzahlen aufgrund von Druck aus Wirtschaft und Bevölkerung Lockerungen beschliesst», sagt Harry Petridis. Aber irgendwie müsse man zu einer Art Normalität zurückfinden. Eine ohne Masken, in der es möglich sei, einander ohne Angst die Hand zu geben oder sich zu umarmen.«Dass es bald ein Medikament gegen Corona gibt, ist eher unwahrscheinlich, deshalb ist die einzige Alternative, mit Impfungen eine hohe Herdenimmunität zu erreichen», sagt der Arzt. Wichtig sei auch, bei Verdacht Schnelltests zu nutzen und sich sofort beim Hausarzt zu melden, wenn man positiv sei. «Dafür sind wir da.»Wichtig ist Petridis auch, dass allgemeine Krankheitssymptome ernst genommen werden. «Auch eine Lungenentzündung, die nicht Corona verursacht hat, kann unbehandelt schlimme Folgen haben.» Petridis sagt: «Ich erwarte, dass die Diskussionen erst richtig losgehen, wenn sich die Lage etwas beruhigt hat. Die Fragen sind dann: Wie kann man mit dem Virus leben? Wie soll dieses Zusammenleben aussehen?»Unsere Serie zeichnet chronologisch nach, was sich für die Menschen aus der Region in den einzelnen Phasen der Pandemie verändert hat.

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