28.06.2022

Wie es ist, mit Schutzstatus S zu leben

Nach ihrer Flucht hofft eine junge Mutter aus der Ukraine auf berufliche Perspektiven im Rheintal. Im Deutschkurs legt sie die Basis.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 02.11.2022
Olya Avershyna aus Odessa verliess kurz nach Kriegsausbruch Ende Februar mit ihrem dreijährigen Sohn Ruslan ihre Heimat. Ihr Mann musste zurückbleiben und in den Militärdienst einrücken. Jeden Tag hofft sie, dass es ihm gut geht. «Ruslan fragt viel nach seinem Papa», sagt die 33-Jährige. Sie telefonieren möglichst oft mit ihm und erfahren, dass die Lage weiterhin unsicher und gefährlich ist. Die Ukrainerin spricht von einer Rückkehr, aber erst, wenn die Kämpfe vorbei sind. Sie will ihr Kind vor dem Schrecken des Krieges schützen, das war ihr wichtigster Grund zu flüchten.Olya Avershyna wohnt seit April mit ihrem Sohn in Montlingen in einer Einliegerwohnung bei Familie Loher. Sie ist dankbar für diese Lösung, die mit einem unbefristeten Mietvertrag geregelt ist. Bei der Vermittlung waren Martin Tschirren und Sabrina Lüchinger des Vereins Shelter behilflich. In der Nachbarschaft leben viele Kinder und Ruslan darf einmal pro Woche die Kinderhüeti besuchen.Menschen begegnen ihr mit InteresseDie Menschen seien sehr offen, freundlich und wollen helfen, sagt Olya Avershyna. Wenn sie an drei Tagen wöchentlich den Deutschunterricht besucht, betreuen eine ukrainische Freundin oder Frauen aus dem Dorf ihren Sohn. Beim Lernen der Sprache staunt sie, dass manche Wörter in Deutsch und Ukrainisch dieselben sind. Zum Beispiel Kartoffel, Zucchini und Karotte, aber auch Bezeichnungen wie Rucksack und Stuhl.Dennoch ist der Spracherwerb mit Schwierigkeiten verbunden. Sie wurde im Unterricht von Lehrpersonen gefragt, weshalb die Leute im Kurs nicht schneller Fortschritte machen, ob sie den Unterricht nicht mögen. «Wir wollen lernen, aber manchmal sind wir abgelenkt und belastet mit den Neuigkeiten aus der Ukraine, die wir von Familienangehörigen erhalten», sagte Olya Avershyna. Ihre Eltern leben in Luhansk, sind über 60 Jahre alt und wollten sich nicht den Strapazen einer Flucht aussetzen, ihr Bruder muss Militärdienst leisten. Sie möchte ihnen helfen, «Doch wie?», fragt sie. Es bleibe ihr nur zu beten. Sie habe sich auch schon vorgenommen, keine Nachrichten mehr zu schauen. Sie wolle nur wissen, wie es ihrer Familie gehe. «Sind sie ok, bin ich es auch.»Seit sie hier ist, überlegt sich Olya Avershyna, welcher beruflichen Tätigkeit sie nachgehen könnte. Sie möchte finanziell unabhängiger werden. Vorläufig erhält sie Geld von der Gemeinde Oberriet, die auch die Miete bezahlt, und Privaten, die Solidarität ausdrücken. Selber ist sie eine qualifizierte Fachperson, studierte Psychologie und Sportunterricht und arbeitete in der Ukraine als Pädagogin. Sobald es ihre Sprachkenntnisse erlauben, könnte sie sich vorstellen, in einer Kita zu arbeiten. Sie ist sich bewusst, dass Ruslans Betreuung einen Knackpunkt darstellt. Sie denkt, in einer Kita auch ihren eigenen Sohn mitbetreuen zu können.Eine enge Bezugsperson im Dorf gefundenEine wichtige Stütze bei solchen Überlegungen und bei Alltagsfragen ist Jasmin Loher. Sie und ihre Familie haben Olya Avershyna und Ruslan nach der Ankunft im Rheintal Anfang März spontan zu Hause aufgenommen. Auch jetzt, wo die Ukrainerin in einer eigenen Wohnung lebt, pflegen die beiden Frauen engen Kontakt, sei es bei gemeinsamen Mittagessen, Freizeit- und Sportaktivitäten und Organisatorischem. «Das war uns wichtig, dass wir nicht nur zu Beginn helfen, sondern Olya nachhaltig unterstützen», sagt Jasmin Loher, die Vorstandsmitglied im Verein Shelter ist. Sie hat Ruslan in der Spielgruppe angemeldet, nimmt ihn und Olya Avershyna mit ins Muki-Turnen und schickt sie ins Dazolino in Eichenwies, eine frühe, spielerische Förderung in deutscher Sprache. Sie bemühte sich auch um ein Velo mit Anhänger, weil Geflüchtete seit dem 1. Juni den öffentlichen Verkehr nicht mehr gratis benutzen können. Um günstig Lebensmittel zu beziehen, empfahl Jasmin Loher die Adresse des eggPunkt in Altstätten, wo wöchentlich Produkte an Menschen abgegeben werden, die in bescheidenen Verhältnissen leben. «Olya erschrak über die Preise in den Läden und dachte zuerst, sie könne sich kein Brot mehr leisten.»Die junge Mutter sei in erster Zeit gedanklich oft abwesend gewesen, habe aber vorzu in den Alltag gefunden, sagt Jasmin Loher. Olya Avershyna sei eine Frau, die ihre Emotionen kontrolliere. Natürlich sei nicht immer alles in Ordnung. Sie brauche manchmal auch Zuspruch und müsse an Pflichten, die sie hier wahrzunehmen hat, erinnert werden. Die Ukrainerin ihrerseits drücke ihre Wertschätzung mit Dankesworten aus und helfe mit, wo sie könne.Die Umgebung, in der Olya Avershyna nach ihrer Flucht angekommen ist, versetzt sie nach wie vor ins Staunen. Sie ist beeindruckt von der Natur, den Seen und den sauberen Dörfern. Wäre nicht der Krieg in ihrem Heimatland, sagt sie, würde sie ihren Aufenthalt im Rheintal mit anderen Augen wahrnehmen können.Hinweis: www.shelter-ukr.ch 

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