Max TinnerDaniel Kaiser wollte den Schwachen eine Stimme geben. Darum ist er Rechtsanwalt geworden. Dies hat den Eichberger auch schreiben lassen. Drei kleine Büchlein hatte er bereits während seines Studiums veröffentlicht; zwei Novellen und ein Lyrikbändchen. Inzwischen hat Kaiser seine eigene Kanzlei in Oberriet. Letztes Jahr wollte er Richter werden. Doch das blieb ihm verwehrt.Vom eigenen Beruf inspiriertWas ihn während seines Studiums beschäftigte, treibt ihn aber noch immer um. Vor bald zehn Jahren hat er begonnen, an einem Roman zu schreiben. Jetzt hat er ihn vollendet. Seit ein paar Tagen ist Kaisers Romanerstling erhältlich: «Schuldig im Sinne der Anklagen», 320 Seiten stark. Der Titel lässt keine Zweifel offen: Das Buch ist von seinem Beruf inspiriert. Oft hat Daniel Kaiser es zwar mit Strassenverkehrsrecht zu tun. Da er selbst Liebhaber starker und schneller Autos ist, liegt ihm dies nahe. Sein eigentliches Spezialgebiet ist aber das Strafrecht. In diesem Fachgebiet hat er auch eine Dissertation verfasst, die zurzeit bei seinem Doktorvater – dem bekannten Strafrechtsprofessor Martin Killias – zur Beurteilung liegt.Auch in Daniel Kaisers Roman geht es um ein Strafverfahren. Allerdings erst gegen den Schluss der Erzählung hin. Im Mittelpunkt steht – wie schon in Kaisers früheren kürzeren Geschichten – ein Mensch, der von der Gesellschaft ausgegrenzt und immer wieder von neuem gemobbt wird. Jemand, der als Sonderling angesehen wird. Kaiser nennt ihn Reinfried.Reinfried ist eine widersprüchliche Figur: Obwohl er ständig gepiesackt wird, will er immer wieder daran glauben, dass die Menschen prinzipiell gut sind und sich auch so verhalten. Genau dieser Sonderling ist es dann auch, der in der Schlüsselstelle der Geschichte einem Mann zu Hilfe eilt, der frühmorgens vor einem Café überfallen und niedergestochen wird. Doch er kann nichts mehr tun – der Mann stirbt. Reinfried wird aber gesehen, wie er sich über das Opfer beugt. Für die Leute ist damit klar: Er ist es gewesen, er hat es getan.So sehr ihn die Schwatzhaftigkeit der Menschen seit jeher abstösst und ihn Distanz halten lässt, und obwohl er schon früher schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat, setzt Reinfried doch vertrauensvoll auf die Untersuchung der Behörden. Schliesslich hat er ja nichts angestellt, denkt er. Es kann ja gar nichts anderes dabei herauskommen als seine Unschuld.Doch auch für die Staatsanwaltschaft ist Reinfried der Schuldige. Und zu dessen Unglück setzt sich sein Verteidiger kaum für ihn ein. Es kommt, wie es kommen muss: Reinfried wird verurteilt: schuldig im Sinne der Anklage.«Die Verteidigung muss ihre Sache ernst nehmen»«Die Gesellschaft braucht einen Schuldigen», erklärt der Autor die Handlung seiner Geschichte, «und Gericht und Strafverfolgungsbehörde tun alles, um keinen Fehler zugeben zu müssen.» Der Roman sei zwar keine Nacherzählung eines realen Falles. Er habe sich aber von verschiedenen wahren Begebenheiten leiten lassen, versichert Daniel Kaiser. Er übt mit seiner Geschichte Kritik an der Strafverfolgung und an der Rechtsprechung, und damit an einem System, dem er als Anwalt selbst angehört. «Die Verteidigung muss ihre Sache ernst nehmen», mahnt Kaiser und stellt gleichzeitig das Vertrauen in kriminaltechnische Gutachten in Frage: «Ein Gutachter versteht nur so viel, wie sein Wissen und sein Können es zulassen.»Vor allem sieht Daniel Kaiser seinen Roman aber als Kritik an der Gesellschaft selbst und als Appell, sich nicht zu Vorurteilen hinreissen zu lassen: «Man gibt gemeinhin viel auf den ersten Eindruck – aber der kann täuschen.»HinweisAm Samstag, 8. Dezember, liest Daniel Kaiser im Restaurant Haus zur Eintracht in Oberriet aus seinem Roman. Die Lesung ist öffentlich. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Beginn ist um 16 Uhr. Leseprobe«Das ist er, der Schuft!»Reinfried wendete seinen Blick erneut auf die Strasse. Das Opfer lag regungslos dort und ausser ihm war niemand in der Nähe. Er eilte in verwegener Manier zum Gefallenen und vergass hierbei kurzfristig seine körperlichen Defizite. Er fühlte seinen Puls und musste feststellen, dass ihn die Lebensgeister verlassen hatten. Aus Unachtsamkeit berührte er auch die blutende Wunde und trat mit einem Schuh in die Blutlache. Durch seine zittrigen Hände verteilte er das aufgenommene Blut mit Spritzern auf seine Kleidung. Ein Tram hielt an der unweit entfernten Haltestelle, Leute stiegen aus und ein. Aufmerksam gewordene Passanten nahmen nun erstmals den Vorfall wahr. Sie sahen, wie sich Reinfried blutüberströmt über den leblosen Corpus neigte und heftig zitterte, als ob er seine Tat nicht verarbeiten konnte. Ein Mann zeigte auf ihn und rief: «Haltet ihn fest!» Reinfried wurde von einer unbeschreiblichen Panik ergriffen. Er sprang auf und entfernte sich vom Ort des Geschehens. Jetzt, da ihn noch niemand aus der Nähe erblickt hatte, konnte er noch in die Anonymität des grauen Morgens abtauchen. Weg von den Problemen – so wie er es immer tat. Sein steifes Bein vermittelte den Zeugen den Anschein, dass er im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Opfer selber verletzt worden sein musste. Die Polizei war kurz nach der Alarmierung mit einem Grossaufgebot vor Ort und sperrte das Gebiet, das von einer Sekunde auf die andere zum Tatort wurde, weiträumig ab. […] Reinfried hatte aufgrund der sofort in die Wege geleiteten Ringfahndung keine Chance, unentdeckt zu entkommen. Er fiel sogleich auf und wurde zurück an den Tatort gebracht, um ihn den Zeugen direkt gegenüberzustellen. Die Zeugen bestätigten, dass sich Reinfried über das Opfer gebeugt hatte. Zwei Personen sagten aus, dass sie sich sicher sind, Reinfried beim Ausführen von Messerstichen gegen den Gefallenen beobachtet zu haben. […] Manche Schaulustige zeigten mit ihrem Finger Richtung Reinfried und er meinte zu hören, wie einige «Das ist er, der Schuft!» riefen.Aus: Daniel Kaiser, «Schuldig im Sinne der Anklagen», Verlag Schweizer Literaturgesellschaft, Zug. ISBN 978-3-03883-058-0. Erhältlich in Buchhandlungen in der Region und über Online-Bookshops.