17.07.2019

Vorwärts, immer vorwärts

Titus Haltiner sitzt nach einem Motorradunfall im Rollstuhl. Er führt in Montlingen ein Zweiradgeschäft.

In der Werkstatt herrscht Betrieb, und der Chef ist mittendrin. Durch ein Fenster sieht Titus Haltiner kurz vor Mittag den Reporter im Laden seines Zweirad-Centers in Montlingen, legt den Schraubenzieher beiseite, und ein paar Sekunden später streckt er dem Besucher die Hand entgegen: «Sali, ich bin der Titus.» Man fühlt sich sofort willkommen.Titus Haltiner (56) ist schwungvoll um die Ecke gekommen, präziser: gefahren. Er sitzt im Rollstuhl, derzeit einem elektrischen, weil er letzten Herbst während der Arbeit einen Achselbruch erlitten hat und seinen rechten Arm nur reduziert einsetzen kann. Trotzdem lebt er getreu dem Motto: Vorwärts, immer vorwärts. Der Zweiradunternehmer ist nicht bloss eine Bekanntheit im Dorf, in dem er mit fünf Geschwistern auf einem Bauernhof aufgewachsen ist. Sein Geschäft ist eine führende Adresse weitherum. Er mag das Unkomplizierte, Direkte, er ist ein Freund der klaren Ansage, wobei er keinen harschen Ton anschlagen muss, um verstanden zu werden.Seine Leidenschaft ist  das Motorrad Nach der viereinhalbjährigen Ausbildung zum Velo- und Motorradmechaniker macht er sich selbstständig. Er werkt in einer Bude im Elternhaus, repariert Velos und Töfflis und hat genug Aufträge, um über die Runden zu kommen. Selber fährt er mit Leidenschaft Motorrad, aber einmal wird ihm ein Ausflug zum Verhängnis. Bei einem Sturz am 6. September 1986 verliert seine Freundin das Leben – er wird schwer verletzt ins Spital gebracht. Die Diagnose: inkomplette Paraplegie. Die Zukunft: Ein Leben im Rollstuhl. Titus Haltiner kann die Bilder, die Gefühle von damals noch klar abrufen. «Aber ich studiere eigentlich nicht mehr gross darüber nach», sagt er. Dann schweift sein Blick ab, seine Schultern zucken etwas, Gesten, die seine Nachdenklichkeit zeigen: «Es war keine einfache Zeit. Ich hatte das Glück, dass mir mein Umfeld enormen Rückhalt gab, die Familie, die Kollegen. Es musste weitergehen … irgendwie.» Bei der Verarbeitung halfen auch seine Aufgaben im Geschäft.Der Unfall gehört zu seiner Lebensgeschichte wie die Zeit danach in Basel, die fünfeinhalb Monate in der Reha-Klinik, die Operationen, die Leiden. Es gibt aber auch Momente aus dieser Zeit, die ihm ein Strahlen ins Gesicht zaubern. Er liegt im Sechserzimmer und versteht sich mit seinen Leidensgenossen ausgezeichnet. «Da sind Freundschaften entstanden», sagt er. Mit drei Kollegen hat er Kontakt bis heute. Und in bester Erinnerung behält er Guido A. Zäch, den Chefarzt des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ), das zu jener Zeit noch in Basel domiziliert war. Als er von Basel heim nach Montlingen kommt, ist es für ihn keine Frage, ob er als Mechaniker weitermacht. Mit grosser Unterstützung seiner Schwester Theres erweitert er kontinuierlich das Unternehmen. Als Gönnermitglied der Schweizer Paraplegiker-Stiftung erhält er damals 100000 Franken Gön­nerunterstützung, die er in den nötigen Umbau des Hauses und die Anpassung des Autos steckt. Der Verunfallte kämpft mit gesundheitlichen Rückschlägen, muss zwei Monate lang ins SPZ.Zurück in der Ostschweiz, fährt er mit seinem geliebten Job fort. Er ist getrieben von Fleiss und Ehrgeiz. Als Selbstständiger beantragt er bei der Paraplegiker-Stiftung Direkthilfe, die er in die Infrastruktur seines Geschäfts investiert. Sollte Haltiner das Ganze einmal verkaufen, müsste er die Summe zurückzahlen. 2009 eröffnet er gleich neben dem Elternhaus einen modernen Laden, der alles anbietet, was mit Zweirädern zu tun hat: Velo, Töffli (auch kultige Puch Maxi), Motorräder, Helme, Textilien, Zubehör.  Titus Haltiner beschäftigt heute zehn Angestellte, sein Bruder Tobias hilft mit, das Team zu leiten. Sechs Tage pro Woche ist Titus in seiner Welt anzutreffen. Ferien macht er keine, braucht er nicht: «Ich bin nicht der Typ dafür.» Träumt er vielleicht von einer weiten Reise? «Nein, diesen Drang habe ich überhaupt nicht.» Nur am Sonntag nimmt er sich Zeit zur Erholung, am liebsten draussen.Ein feines Gespür  für Motorräder Er besitzt ein Trike, ein dreirädriges Gefährt, Motorrad und Auto in einem. Es war damals das erste in der Schweiz homologierte Trike und das erste Modell, das für Behinderte zugelassen wurde. Manchmal zieht es ihn über die nahe Grenze ins Vorarlbergische, wo er die idyllische Hügellandschaft in gemächlichem Tempo geniesst: «Es juckt mich dabei nicht, aufs Gaspedal zu drücken.» Oder er fährt mit dem Handbike kilometerweise auf dem Rheindamm. Besonders wichtig sind ihm die Stunden mit seinen Freunden: «Sie gaben mir von Anfang an Rückhalt und nahmen mich auch mit meinem Handicap überall mit in den Ausgang.»Gewöhnt hat sich Titus Haltiner in über dreissig Jahren im Rollstuhl an vieles. Unverändert geblieben ist sein feines Gespür für Motorräder. Wenn einer mit einer Maschine auf den Hof fährt, gibt ihm der Ton allein einen Hinweis darauf, ob der Motor sauber läuft. Er hört, ob das Gefährt in einwandfreiem Zustand ist – dazu muss er nicht mehr selber darauf sitzen.Es gibt aber auch Momente, die ihn nachdenklich stimmen. Etwa wenn er denkt: «Es wäre schön, wenn ich jetzt normal gehen könnte.» Er sucht kein Mitleid, aber Emotionen unterdrückt er nicht: «Kein Mensch ist aus Beton.» Grundsätzlich ist er zufrieden mit seinem Leben, auch wenn er an vielen Einschränkungen leidet.  Trotz vieler Hürden und etlicher Rückschläge hat Titus Haltiner sein eigenes Lebenswerk geschaffen. «Für mich stimmt es», sagt er noch und meint sowohl das Berufliche als auch das Private. Er sei Single, aber glücklich. Mit seinem 86-jährigen Vater wohnt er gleich im Haus neben dem Geschäft. Es ist Nachmittag geworden in Montlingen, und die Arbeit ruft. «Hast du alles?», fragt Titus Haltiner den Reporter. Er wirkt zufrieden. «Man muss Sorge tragen zu dem, was man hat», sagt er, verabschiedet sich, fährt zurück in die Werkstatt und bringt an seinem Arbeitsplatz das Töffli auf Vordermann. (pmb/we)ZweittextMitgliederbeitrag Als Gönner bekam Titus Haltiner eine Gönnerunterstützung von damals 100000 Franken (heute: 250000 Franken). Von der Paraplegiker-Stiftung erhielt er zudem 50000 Franken Direkthilfe für die Infrastruktur seines Geschäfts, das sein selbstständiges Leben ermöglicht. (pmb/we)

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