Gerhard HuberDie Zeit und das Alter verschont manche Menschen mehr als andere. Marianne Maier ist so ein Mensch. Die 77-jährige Sportlerin aus St. Margrethen scheint mindestens 20 Jahre jünger zu sein, als es ihr Pass ausweist. Sie strahlt Vitalität, Lebenskraft und Energie aus. Sie ist das lebende Beispiel dafür, dass Sport jung hält. Und dass man auch im höheren Alter noch Leistungssport betreiben kann. Die Leichtathletin hamstert nämlich in ihrer Altersklasse nach wie vor Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften. Und greift dabei meist nach der Goldenen.Marianne Maier: «Je älter ich werde, umso bewusster wird mir, was ich alles geleistet habe. Die vielen Titel, die Weltrekorde, die ich erreicht habe und teilweise aktuell halte. Zwischenzeitig ist mir der eine oder andere wieder abhandengekommen. Es ist mir mit der Zeit fast zu viel geworden, den Überblick zu behalten. Derzeit halte ich in der Klasse W75 die Weltrekorde im Kugelstossen, beim 80-Meter-Hürdenlauf und im Siebenkampf.»Kein Wunder, wurde sie letztes Jahr in Venedig als beste europäische Mehrkämpferin und bei den jüngst ausgetragenen Austrian Athletics Awards 2020 zum vierten Mal als Sportlerin des Jahres bei den Masters-Athleten ausgezeichnet. Österreich? Ja, denn die in St. Margrethen wohnhafte, gebürtige Diepoldsauerin geht seit Jahrzehnten für die Turnerschaft Höchst und damit für den Österreichischen Leichtathletikverband an den Start. Wieso das?«Angefangen habe ich mit Leichtathletik bei der Damenriege des STV St. Margrethen. Wir haben auf der Bahn gesprintet und uns im Weitsprung versucht. Niemand hat uns trainiert, niemand hat sich ausgekannt. Aber bei den kleinen Wettkämpfen, an denen wir Anfang der Achtzigerjahre teilgenommen haben, habe ich gemerkt: Das liegt mir, da bin ich gut. Beim ersten Meeting in Hard haben wir Trainer Manfred Gonner von der TS Höchst kennengelernt und ihn gefragt, ob er uns die Technik zeigen kann, ob wir zu ihm trainieren kommen dürfen. Als dann die St. Margrether Gruppe auseinanderfiel, habe ich zu den Höchstern gewechselt und angefangen, gezielt Leichtathletik zu trainieren. Das war 1984, ich war 42 Jahre alt.»Im gleichen Jahr schon nahm Marianne Maier im malerischen südenglischen Seebad Brighton an ihrem ersten internationalen Wettkampf teil. Nur vier Jahre später stand sie bei der Europameisterschaft im italienischen Verona zum ersten Mal auf dem Podest. Von da an hat sie an allen Leichtathletik-Senioren-Weltmeisterschaften und Europameisterschaften teilgenommen. Und Marianne Maier klassierte sich immer besser, je älter sie wurde.«Dank des Sports bin ich auf der ganzen Welt in Länder gekommen, die ich sonst nie bereist hätte. Ich habe Dinge erlebt, die ich sonst nie erleben hätte können. Denn als Kind und Jugendliche war ich von Diepoldsau, wo ich aufgewachsen bin, höchstens bis nach Heerbrugg oder mit der Schule auf den Säntis gekommen. Ich bin die Älteste von elf Geschwistern. Da musste ich von Anfang an mitarbeiten. Mit guten schulischen Leistungen wollte ich in die Sekundarschule. Keine Chance. Da hat es zu Hause geheissen, Mädchen sollen heiraten. Ausserdem wäre für ein Velo, für die Fahrt zur Sekundarschule nach Heerbrugg, kein Geld da gewesen. So wurde ich nach der Primarschule zum Arbeiten zur Stickerei Frei in Diepoldsau geschickt und habe den Zahltag zu Hause abgegeben, obwohl ich gern eine Lehre in der Modebranche gemacht hätte. Da hat es geheissen: ‹Du brauchst keine Lehre.› So war das damals. Als grosse Schwester musste ich gleich nach der Schule nach Hause kommen, der Mutter helfen, durfte nicht spielen.»Dennoch hat die Sportlerin ihr privates Glück gefunden. Und zwar ihren Ferdi. Einen Österreicher aus Kärnten, der Anfang der 60er-Jahre in Lustenau gewohnt und gearbeitet hat. Die Heirat war schon 1965. Das ist auch der Grund, dass die Leichtathletin eine schweizerische und eine österreichische Staatsbürgerschaft hat.«Ferdi habe ich im ‹Bahnhöfli› in Au kennengelernt. Das war eine der Tanzbars, wie sie damals üblich waren. Es gab eine Musikbox und eine kleine Tanzfläche. Ferdi ist damals immer mit dem Velo mit seinen Arbeitskollegen in die Schweizer Gaststätten gekommen. Es hat gleich gefunkt bei uns. Wir ergänzen uns super und haben es sehr schön. Wir haben beide sportliche Betätigungen, die uns Spass machen. Er fährt bei trockenem Wetter in jeder freien Minute Rennvelo, für sich und seine Gesundheit. Und ich habe mein Leichtathletiktraining.»Auch beruflich ging es für die Seniorensportlerin bis ins hohe Alter weiter. Zunächst in einer frühen Computerfirma in St. Margrethen, dann über die Mitarbeit in einem Kiosk bis zu Vögele, wo sie bis zur Pensionierung mit 67 Jahren zu 60 Prozent gearbeitet hat. Marianne Maier hat sich mit Kursen weitergebildet, die englische Sprache erlernt, die Trainerausbildung gemacht und sich intensiv mit der Materie Sport auseinandergesetzt. In St. Margrethen trainierte sie die Leichtathleten, sie übernahm auch eine Gruppe in Höchst und organisierte Wettkämpfe.«Durch die Teilzeitarbeit hatte ich immer Zeit für meinen Sport und meine Familie. Wir haben einen Sohn und zwei Enkel. Sie wurden leider keine Leichtathleten, obwohl sie fraglos das Talent dazu gehabt hätten. Meine Schwiegertochter leitet den Squashclub in Vaduz, dort ist einer der beiden Enkel sehr erfolgreich. Mein Sohn Peter spielte auch Squash. Ausserhalb der Leichtathletik habe ich immer gerne genäht, geschneidert, gehäkelt und gestrickt. Und jetzt mache ich nebenbei Schüleraufgabenhilfe für Primarschüler von der ersten bis zur sechsten Klasse.»Die vielen Auslandsreisen, die ihre Erfolge in der Leichtathletik mit sich bringen, muss sie allein machen. Ihr Mann Ferdi will nicht reisen. Marianne dafür umso mehr. Sie schwärmt von den vielen kleinen und grossen Abenteuern, die sie in ihrer langen Karriere auf allen fünf Kontinenten erlebt hat.«Das imponierendste Erlebnis war für mich die WM 1993 in Miyazaki in Japan. Ich war bis dahin noch nicht weit herumgekommen. Die Eindrücke waren sensationell, das kannst du gar nicht beschreiben, einfach eine andere Welt. Probleme hatte ich nur mit dem Essen, ich mag doch dieses Meeresgetier nicht. Da war überall Zeug drin, das gekrabbelt hat. Ein Vorteil dabei: Du isst wirklich nur, wenn du Hunger hast. Wenn du genug hast, hörst du auch gleich wieder auf. So habe ich in Japan fünf Kilo abgenommen. Sehr schön war auch Buffalo in den USA zwei Jahre später, wo ich Silber im Hürdenlauf und im Siebenkampf gewann. Auf einmal siehst du Amerika. Die Leute waren sehr offen und frei. Wie auch jene in Brisbane in Australien, die mir mit ihrer extremen Lockerheit sehr imponiert haben. Der schönste Auslandsaufenthalt aber war die WM in Durban in Südafrika in einem Hotel direkt am Strand und mit Ausflügen in den Krüger-Nationalpark. Es war aber auch gefährlich. Einem österreichischen Sportkollegen, der sich ein billiges Zimmer in der Innenstadt gemietet hatte, hat man, als er zu Fuss zu uns unterwegs war, ein Messer an den Hals gehalten, die Bauchtasche mit allen Dokumenten, Karten und Geld abgeschnitten und geraubt. Dann sind die Räuber abgehauen. Das war sicher teurer als ein Aufenthalt im Fünf-Stern-Hotel, wo wir in Sicherheit waren.»Ja, die Senioren-Leichtathleten müssen immer auch auf die Kosten schauen. Denn sie zahlen ihre Reisen zu allen internationalen Meisterschaften aus der eigenen Tasche. Auch wenn man wie Marianne Maier regelmässig als Weltmeisterin oder Weltrekordhalterin von den Wettkämpfen zurückkehrt.«Manchmal gibt es einen kleinen Zustupf vom Verein in Höchst, aber im Prinzip zahle ich alles selber. Mich ärgert manchmal, wenn ich sehe, was in anderen Sportarten alles bezahlt wird. Am Anfang hatten wir Seniorensportler kein Medienecho, kein Prestige. Doch das ist besser geworden. Früher bin ich oft mit den Schweizern zu den Wettkämpfen geflogen. Da kenne ich alle, denn beim jährlichen Masters-Meeting in Dornbirn, das ich organisiere, nehmen die meisten Athleten aus der Schweiz teil. Die Startgebühren werden von den Verbänden nur bei der WM oder EM bezahlt. Deshalb ist es egal, für welchen Verband ich starte, denn auch bei Swiss Athletics ist die Regel gleich. In Wahrheit nehme ich weder für Österreich noch für die Schweiz teil: Ich starte nur für mich. Ich möchte ein Vorbild sein. Ein Vorbild für die Jungen und für die Alten. Man muss im Leistungssport auf viel verzichten, aber ich habe durch den Sport so viele schöne Stunden erlebt, ich kann es gar nicht in Worte fassen.»