04.01.2021

«Von der Zuwanderung hängt viel ab»

Mehr Kinder, mehr Lebensjahre und mehr Zuzüger: Das Rheintal wird in den kommenden Jahren stark wachsen. Statistiker Lutz Benson erklärt, weshalb.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Kurz vor dem Jahreswechsel blickte die kantonale Fachstelle für Statistik für einmal nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Die Statistiker berechneten in drei Szenarien, wie viele Menschen in 30 Jahren im Kanton St. Gallen und in seinen Wahlkreisen leben dürften. Dabei stellte sich heraus: Prozen­tual wächst das Rheintal im Kanton am stärksten, nämlich um 30,5 Prozent oder von 73 646 Personen im Jahr 2019 auf 96 071 Personen im Jahr 2050. Dies, wenn es nach dem Szenario «Trend» geht, in dem sich die Fachleute auf Fruchtbarkeits-, Wanderungs- und Sterblichkeitszahlen der letzten Jahre stützen (Ausgabe vom 28. Dezember). Im Interview erklärt Lutz Benson, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle Statistik, ob wir uns in drei Jahrzehnten tatsächlich der 100 000er-Marke nähern werden und welche Faktoren die Prognosen beeinflussen könnten.Lutz Benson, wissenschaftlicher Mitarbeiter der kantonalen Fachstelle für Statistik Herr Benson, prozentual soll das Rheintal bis 2050 im Kanton am stärksten wachsen. Weshalb fällt die Zahl höher aus als in allen anderen Regionen?Lutz Benson: Der überdurchschnittlich starke Zuwachs ist vor allem darauf zurückzuführen, dass dem Rheintal im Trendszenario eine kontinuierlich hohe Zuwanderung von ausserhalb des Kantons prognostiziert wird. Zusätzlich verzeichnet die Region auch moderate Wanderungsgewinne aus den anderen Kantonsteilen. Ganz anders beispielsweise der Wahlkreis Werdenberg, der kaum mit Wanderungsgewinnen aus dem übrigen Kantonsgebiet rechnen kann, oder das Sarganserland, in dem die Bevölkerung sogar eher in andere Wahlkreise abwandert. Aufgrund von Wanderungsgewinnen von ausserhalb wachsen aber auch diese beiden Wahlkreise stark.Man könnte annehmen, es sei attraktiv, in der Stadt zu leben. Weshalb wachsen urbane Regionen wie St. Gallen oder Wil verhältnismässig weniger stark als das Rheintal? Die genannten Wahlkreise verzeichnen kaum Wanderungsgewinne durch Zuzüger aus anderen Gebieten des Kantons. Zuzüger gibt es zwar sehr wohl – aber eben auch viele, die wieder abwandern.Die Bevölkerungsszenarien gründen auf bisherigen Zahlen der Wanderung, Fruchtbarkeit und Sterblichkeit. Welche unvorherseh­baren Faktoren können die Statistik in den nächsten Jahren massgeblich beeinflussen?  Annahmen zu Fruchtbarkeit und Sterblichkeit beruhen auf den Beobachtungen der letzten Jahrzehnte. Es ist nicht davon auszugehen, dass es hier zu massiven Veränderungen kommt. Graduelle Unterschiede werden durch die drei berechneten Szenarien abgedeckt. Sie ziehen entweder dem Trend entsprechende, etwas positivere oder  negativere Annahmen zu Fruchtbarkeit und Sterblichkeit bei. Die grosse Unbekannte ist die Zuwanderung, vor allem die internationale. Weshalb tappt man bei dieser Zahl im Dunkeln? Zwar werden in den Szenarien auch die Zuwanderungstrends der letzten Jahre fortgeschrieben. Es gab in der Vergangenheit aber immer wieder starke Veränderungen, die sich auch für die Zukunft nicht ausschliessen lassen. Dies, weil Bund und Kanton Einflussfaktoren auf die Zuwanderung grösstenteils nicht selbst steuern können. Ausschlaggebend sind europäische und welt­wirtschaftliche Entwicklungen, globale Ereignisse wie Kriege oder auch Naturkatastrophen, die zu Flüchtlingsbewegungen führen können. Wie steht es um die Anzahl Geburten: Dürfte die Bevölkerung im Rheintal auch aufgrund von mehr Neugeborenen wachsen? In den kommenden 15 Jahren spielt im Trendszenario tatsächlich auch der Geburtenüberschuss eine grosse Rolle. 2020 hat es im Rheintal 260 Neugeborene mehr gegeben als Verstorbene, 15 Jahre später sollen es immerhin noch 110 Babys mehr sein. Danach nähern sich Geburten und Todesfallzahlen aber stark an, sodass sie kaum mehr einen Beitrag zum Bevölkerungswachstum leisten.Weshalb fällt der Geburtenüberschuss nach 2035? Der Saldo wird sich vermutlich in Richtung Null bewegen und irgendwann sogar negativ werden, weil die Bevölkerung stark altert und die Todesfälle zunehmen. Die Geburtenzahlen werden vermutlich maximal einigermassen konstant bleiben, wenn nicht sogar abnehmen – trotz Zuwanderung.Könnte die Covid-19-Pandemie einen spürbaren Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben?  Der direkte Einfluss ist eher gering, weil die meisten Todesfälle in hohen Altersklassen auftreten, was die Entwicklung in zehn oder mehr Jahren kaum mehr beeinflusst. Der indirekte Einfluss, etwa auf die wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehende Migration, dürfte vermutlich grösser sein. Ausserdem gibt es weitere Faktoren, die zu berücksichtigen sind. Zum Beispiel? Auch der Trend zum Wohnen im Eigenheim oder auf dem Land beeinflusst das Bevölkerungswachstum. Diese Einschätzungen sind aber noch sehr spekulativ: Es lässt sich kaum vorhersagen, wie stark diese Faktoren Einfluss nehmen.Dürfte sich attraktiver Wohnraum positiv auf das Wachstum auswirken? Baulandreserven werden momentan im Prognosemodell nicht berücksichtigt. Es ist aber geplant, das bei der nächsten Berechnung zu ändern. Meiner Einschätzung nach ist Wohnraumverfügbarkeit für die kleinräumigere Zuwanderung, also aus dem Restkanton und benachbarten Wirtschaftsräumen, durchaus ein wichtiger Faktor, wobei zwingend auch andere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Zum Beispiel gute Erreichbarkeit und öV-Anbindung, wie es beispielsweise im stark wachsenden Thurgau der Fall ist.Was wird sich an der Zusammensetzung der Rheintaler Wohnbevölkerung bis 2050 ändern?  Sie wird wie im Kanton generell kontinuierlich älter. Besonders die Anzahl Einwohner der höchsten Altersklassen – 80+ oder noch älter – wird sehr stark steigen, auch weil sich die Lebenserwartung der Männer derjenigen der Frauen annähert. Zu einer Überalterung kommt es aber nicht, die Zuwanderung wirkt dem entgegen. Denn meist ziehen jüngere Menschen zu, die wiederum für eine höhere Fruchtbarkeit verantwortlich sind. 

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.