Nach ihrer Lehre als Zierpflanzengärtnerin, erwirtschaftet Melanie Ritter noch ein Jahr lang etwas Startkapital. Sie kann nicht glauben, was ihr in der Schule eingetrichtert wird, nämlich dass sie nie eine Fremdsprache erlernen werde. Ihr Ziel ist Englisch lernen in Australien. Weit weg sollte es sein, denn ihre Feriendestination in den Kinderjahren hiess sommers wie winters Bludenz.
In Australien löst sie die obligate Steuermarke, kauft mit einem Freund einen uralten Ford Leaser und bereist das Land als Erntehelferin. Sie fühlt sich sofort wohl in diesem unkomplizierten Wanderleben. Und sagt freudig:
Dieses Gefühl von Freiheit und Ungebundenheit war das reine Glück für mich.
2011 kehrt sie in die Schweiz zurück, bildet sich zur Obergärtnerin weiter, leitet sechs Jahre das Pflanzencenter in Herisau und frönt ihrem Haupthobby, dem Sparen. Um Überstunden abzubauen und das Sparen noch wirkungsvoller zu gestalten, bereist sie in den Wintermonaten im Minimalmodus Indien, Kambodscha, Marokko und Ägypten. Die drei Monate in Indien aber seien schrecklich gewesen. «Ich kam überhaupt nicht klar mit der allgegenwärtigen Armut.» Die armen Kinder, eine totale Katastrophe sei das gewesen.
2017 ist sie bereit für den grossen Sprung
Mit ihrem damaligen Freund, und der Idee der ‹permakulturellen› Auswanderung geht es auf nach Rio de Janeiro. Via Couchsurfing landen sie bei Enrique, einem Mathematiklehrer, in einer der Favelas. Als Begrüssungskonzert erleben sie ihre erste Nacht ab 21 Uhr mit dem Sound von Gewehrsalven bis anderntags um 11 Uhr. «Ein veritabler Schock», gesteht sie. Doch Enrique lehrt sie bald, den Sound von Feuerwerk und Schiesserei zu unterscheiden.
Nach einem halben Jahr treibt des Heimweh ihren Freund zurück in die Schweiz. Melanie Ritters Entdeckerlust hingegen ist angefacht. Mit Zelt und Rucksack macht sie sich per Anhalter auf den Weg nach Paraguay. Als ihr in Uruguay auf einem Camping alles bis auf den Pass gestohlen wird, bestärkt sie dies erneut in ihrer Minimal-Art zu leben. «Wenn ich heute mehr als das Nötige habe, befällt mich eine innere Unruhe», gesteht sie. «Improvisation, das Erkennen der Gunst der Stunde, des Feierns des Momentes sind wichtige Errungenschaften, die mich das Unterwegssein lehren», ist sie überzeugt.
Als sie wegen zwei Euro mit einem Messer bedroht wird, macht diese Dumm- und Frechheit sie so wütend, dass sie den Angreifer allein durch ihre Wut in die Flucht schlägt. «Hätte er gefragt, hätte ich ihm das Geld doch gern gegeben», ist sie noch heute konsterniert. In Bolivien arbeitet sie volontär in einem Hostel als Rezeptionistin und lernt im Nu Spanisch. In Chile hilft sie, Häuser aus Erde, Stroh, Sand und Wasser zu bauen und bekommt als Gegenleistung Yoga-Stunden. In Argentinien sieht sie die grössten Gletscher und das Ende der Welt, überquert zu Fuss bei drei Grad Celsius einen Grenzfluss und ist doch nie krank. In Peru kommt Julian dazu und führt sie in die Kunst des Jonglierens ein. Mit ihm erkundet sie den Amazonas, sucht und findet den Mittelpunkt der Welt in Ecuador, reist weiter nach Kolumbien, dort mit Fischern auf Holzbooten nach Panama.
Als ihre geliebte Grossmutter sehr krank wird, beschliesst sie nach drei Jahren Südamerika, Europa einen Besuch abzustatten. Aus den geplanten drei Wochen werden coronabedingt zwei Monate, aber dann geht es weiter nach Mexiko. Im Süden von Mexiko trifft sie Don Niklas und assistiert ihm einen Monat lang beim Temaskal-Ritual, eine Art Sauna in Steiniglus zur Reinigung von Körper und Geist. Sie hilft beim Kräutersammeln für den Aufguss und lernt einiges über sich selbst.
Wegen abgelaufenem Visum ausgeschafft
Irgendwann bleibt Melanie Ritter in einer Kontrolle hängen und wird wegen Visumsüberschreitung nach zehn Tagen Ausschaffungshaft zwangsrepatriiert. «Während der Wartezeit reift mein Entschluss, die Weiterreise mit einem Bus und in Europa fortzusetzen», erzählt sie.
Im Mai 2021 findet sie ihren Bus und baut ihn innerhalb von zwei Monaten aus. Auch hier verwendet sie, getreu ihrem Motto, nur Material aus zweiter Hand. Und weiter geht die Reise über Italien, Slowenien, Kroatien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Österreich, worauf wieder ein Besuch der Familie in der Schweiz folgt. Den Sommer verbringt sie in Frankreich, um ihren Englisch- und Spanischsprachkenntnissen auch noch das Französische anzufügen.
Sesshaftigkeit oder ewiger Wandervogel
Im Winter zieht es sie wieder Richtung Spanien und Portugal. Was sie am meisten freut, ist, dass sie immer an sich geglaubt hat, nie aufgegeben hat und ihr bisheriges Ziel, fünf Jahre am Stück zu reisen, erreicht hat. Jetzt liebäugelt sie sogar damit, ihre Wanderschaft um zwei Jahre zu verlängern, aber vermehrt mit dem Fokus, nach einem schönen Platz Ausschau zu halten. «Wo ich meine Ideen und Erfahrungen mit Permakultur, einfachem Wohnen und leben mit Kleintieren verwirklichen kann», wagt sie einen Blick in die Zukunft.