10.10.2019

Vom Rastplatz Polizei davongerast

Für seine wilde Flucht vor der Polizei wird ein 42-Jähriger nicht bestraft. Aber für anderes.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Er hat eine Polizistin an den Haaren gepackt und zu Boden gestossen, mehrfach den Lebenspartner geschlagen, ihn gebissen, und hat eine amtliche Verfügung missachtet.Vorauszuschicken ist: Der vom Kreisgericht Rheintal am Mittwoch verurteilte Mann hat schon mit einer stationären Therapie begonnen, zu deren Gunsten die Gefängnisstrafe aufgeschoben wird. Er leidet unter einer schizotypen Störung. Diese äussert sich in eigentümlichem Verhalten, verzerrter Wahrnehmung und exzentrischem Auftreten. Selbst sein Verteidiger meinte am Mittwoch vor dem Kreisgericht Rheintal, er habe die Wahnideen seines Mandanten aufgrund von langen Briefen mitbekommen.Die Attacken kamenaus dem NichtsDer Gerichtsverhandlung wohnte auch der Mann bei, den der Angeklagte vor fünf Jahren kennenlernte, mit dem er seit März 2017 in einer eingetragenen Partnerschaft lebte und von dem er sagt, er sei «dä schönscht und dä liabscht Maa, woni jemols kenneglernt ha», er liebe ihn.Der Angeklagte hat den Lebenspartner allerdings geschlagen und gebissen. Die Attacken kamen aus dem Nichts, es war kein Streit vorausgegangen – nein, «die Beziehung war gut, wir hatten es schön, kochten zusammen, die Vorfälle geschahen nachts», sagte der Angeklagte vor Gericht.Es sei im Schlaf passiert. Ungläubig soll er nach einem der Vorfälle gemeint haben: «Was? Gebissen? Ich beisse doch keinen.» Als er Licht gemacht und zum Geliebten geblickt habe, der ins Bad gegangen war, habe dieser gemeint, jetzt sei fertig. Wer ihn im Bett in die Stirn beisse, mit dem stimme etwas nicht. Der Angeklagte konnte sich die Taten nicht erklären, sagte mehrmals, dass er wohl erschrocken sei und aus dem Tiefschlaf heraus gehandelt habe, «sicher nicht mutwillig».Wie aber kam es dann dazu, dass er bei der Befragung durch eine Polizistin – also hellwach – die Frau an den Haaren packte und zu Boden stiess, wobei sie sich nicht unerheblich verletzte?In einer früheren Aussage war von einer Überforderung die Rede, von einer Überreaktion. Vor Gericht sagte der Mann, er habe es mit der Angst zu tun bekommen, die Polizistin hätte gegen ihn die Waffe ziehen können.Die Frage des Gerichtspräsidenten, weshalb sie dies denn hätte tun sollen, beantwortete der Angeklagte mit einem Verweis auf die Medien. Man lese «halt so Sachen», will heissen: Es kommt ja Unglaubliches vor. Doch es tue ihm leid und er entschuldige sich bei der Polizeibeamtin. Seine Stimme wurde weinerlich.Verrückteste Tat bleibt ungesühntEinem psychiatrischen Gutachten verdankt der Mann, der jahrelang in der Verwaltung gearbeitet hat und nun eine IV-Rente von 2068 Franken bezieht, dass seine verrückteste Tat ungesühnt bleibt. Wegen Schuldunfähigkeit.Es geht um einen Vorfall am 30. November des letzten Jahres. Auf dem Rastplatz Ruderbach in St. Margrethen bespritzte der Angeklagte einen Fremden grundlos mit Wasser, ehe er sich in seinem Auto einschloss. Als die herbeigerufene Polizei versuchte, mit dem Mann zu reden, fuhr er davon, in Panik, wie er sagte, von der Polizei verfolgt.Blaulicht und Wechselklanghorn konnten ihn ebenso wenig aufhalten wie der von der Polizei verursachte künstliche Stau. Der Mann wich einfach auf den Pannenstreifen aus und fuhr solange weiter, bis er um ein Haar einen Polizisten umgefahren hätte, der sich im letzten Moment grad noch mit einem grossen Schritt zu Seite retten konnte.Erst kurz vor dem Patrouillenfahrzeug hielt der Geflüch-tete. Er stieg aber nicht aus, weshalb die Polizei ein Seitenfenster einschlug, um die Sache zu beenden.Der aus dem Werdenberg stammende Angeklagte hatte eine eher schwere Kindheit und sagt über die eigene Mutter, sie habe ihn einen «schwulen Idioten» genannt. Seit der Geburt leidet er an einer krankhaften Überfunktion der Schilddrüse, und stationäre psychiatrische Behandlungen hat er mehrere hinter sich. Der psychiatrische Gutachter geht davon aus, dass der Angeklagte verordnete Medikamente nicht mit der gebotenen Regelmässigkeit schluckte.Fuss fassen ingeschütztem RahmenIm Wesentlichen wegen mehrfacher Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie der Missachtung eines ihm auferlegten Rayonverbots wurde der 42-Jährige zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten und einer Busse von 800 Franken verurteilt; der Staatsanwalt hatte zehn Monate beantragt, die Verteidigung sechs.Eine einschlägige Vorstrafe – 60 Tagessätze à 30 Franken – wird vollzogen. Finanziell ist der Prozess ohnehin folgenreich, obschon der Angeklagte «nur» zwei Drittel aller Kosten übernehmen muss. Aufzukommen hat er für eine Summe von insgesamt etwa 37000 Franken, vor allem wegen der Verfahrenskosten, aber auch wegen des Honorars seines Verteidigers.Die Gefängnisstrafe wird zugunsten einer stationären Therapie aufgeschoben. Diese soll den Mann befähigen, «mit seiner Krankheit sozialverträglich umzugehen», wie der Gerichtspräsident sagte. Der Gutachter hält dies für möglich, der Angeklagte ist zu einer Therapie bereit. Er wolle Fuss fassen in einem geschützten Rahmen, sich eine Tagesstruktur aufbauen und sich wieder auf dem freien Markt bewerben können.Sein Schlusswort trug der Angeklagte so aufgewühlt vor, dass es sich zunächst kaum verstehen liess. Er wolle sein Bestes geben und hoffe, später trotz des Vorgefallenen wieder mit seinem Lebenspartner zusammen sein zu können. Ende gut, alles gut? Aus Sicht des Lebenspartners soll das jedenfalls nicht ausgeschlossen sein.

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