14.11.2021

Vom Mister Corona zum Chefarzt

Im August trat Stefan Kuster, der in Diepoldsau aufwuchs, in Pietro Vernazzas Fussstapfen. Über seine Leidenschaft zur Medizin und seine Einschätzung der Pandemie.

Von Enrico Kampmann
aktualisiert am 03.11.2022
Stefan Kusters Büro sieht nicht so aus, wie man sich das Büro eines renommierten Chefarztes vorstellt. Es fehlt der übergrosse Schreibtisch mit anatomischen Modellen des menschlichen Körpers. Auch befindet es sich nicht in einem Hochhaus, mit grossen Fenstern und Blick auf die Stadt.Stattdessen lädt Stefan Kuster in ein kleines, weiss gestrichenes Zimmer mit Dachschräge ein, das sich in einer Stadtvilla befindet, einem der Nebengebäude des Kantonsspitals St. Gallen (KSSG). Es bietet knapp Platz für seinen aufgeräumten Schreibtisch und einen kleinen, runden Sitzungstisch mit drei roten Stühlen. Es ist ein gemütliches Büro. Bescheiden. Vor dem Fenster leuchtet eine Birke gelb gegen den grauen Novemberhimmel.Stefan Kuster ist Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am KSSG. Vor dreieinhalb Monaten übernahm er von seinem Vorgänger Pietro Vernazza, der den Posten 36 Jahre innehatte und wegen seiner Aids-Forschung internationale Anerkennung erlangte.Es ist nicht das erste Mal, dass Kuster in grosse Fussstapfen getreten ist. Im April 2020 trat er als neuer «Mister Corona» die Nachfolge Daniel Kochs als Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) an. Nur wenige Monate später gab er jedoch schon seinen Rücktritt bekannt. Die Entscheidung sei seine eigene gewesen. Er habe die Stelle unter anderen Voraussetzungen angenommen, hiess es damals seitens des BAG. Tatsächlich ahnte niemand, in welcher Lage sich die Welt wenige Monate später befinden würde, als Kuster im Herbst 2019 den Vertrag mit dem BAG unterschrieb.Über die genauen Gründe seines Rücktritts schweigt Kuster bis heute. Er legt viel Wert auf seine Privatsphäre. Und es macht den Eindruck, als hätte er sich trotz seiner illustren Posten nie an die Aufmerksamkeit der Medien gewöhnt. Im Frühling hatte Kuster eine Anfrage für ein Porträt abgelehnt. Beim zweiten Versuch willigte er erst nach einigem Zögern ein. Trotzdem ist Kuster freundlich, als er in seinem Büro von seinem Stellenantritt, von Corona und von sich erzählt, die Beine überkreuzt und die Hände meist im Schoss gefaltet.Das Virus ist uns immer einen Schritt voraus«Es ist schön, wieder im Spital zu sein», sagt Kuster. Es tue gut, wieder mit Patientinnen, Ärztinnen und dem übrigen Spitalpersonal zusammenzuarbeiten. Das habe er vermisst. Nach drei Monaten sei es zu früh, um konkrete Aussagen zu machen, aber die Abteilung sei sehr gut aufgestellt, fundamentale Veränderungen plane er zum jetzigen Zeitpunkt keine. Kusters Stimme ist auf-fallend ruhig, seine Antworten kurz und präzise.Gewissen Themen wolle er in Zukunft mehr Gewicht geben, sagt er. Zum Beispiel dem unsachgemässen Einsatz von Antibiotika und die daraus resultierenden Resistenzen, die weltweit zunehmend zum Problem würden. Doch mit dem vielleicht renommiertesten Infektiologen der Schweiz spricht man dieses Jahr nicht über Antibiotikaresistenzen, sondern über Corona.Im April hatte Kuster zu dieser Zeitung gesagt: «Das Virus wird uns womöglich noch bis Ende Jahr intensiv beschäftigen, vielleicht auch darüber hinaus.» Damit hatte er wohl recht. Wie schätzt er die aktuelle Situation ein? Prognosen seien immer schwierig. «Das Virus war uns stets einen Schritt voraus und ist es nach wie vor.»Man reagiere vor allem auf die Entwicklungen der Pandemie, könne aber kaum proaktiv agieren. Einerseits in Bezug auf das Virus, aber auch auf das Verhalten der Menschen. Eines sei jedoch klar: «Der Schutzgrad in der Bevölkerung ist nicht hoch genug, als dass man entspannt in die nächsten Wochen gehen könnte.»Wird der Ostschweiz ihre tiefe Impfquote diesen Winter zum Verhängnis? «Die medizinischen Ressourcen sind endlich», sagt Kuster. Infektionszahlen würden in der Regel exponentiell ansteigen. Je nachdem könne eine schnelle Verdopplung der schweren Infektionsfälle nicht mehr kompensiert werden. Das habe vor allem mit den schweizweit limitierten Personalressourcen auf den Intensivstationen zu tun.Bisher sei es am KSSG nie zu einer deutlichen Überlastung gekommen, aber ausgeschlossen sei es dennoch nicht. Es sei aus infektiologischer Sicht klar, dass am Ende alle Menschen auf die ein oder andere Weise immunisiert würden. Entweder durch die Impfung oder durch eine Infektion. Wobei das Risiko eines schweren Verlaufs oder eines Todesfalls bei Ungeimpften etwa zehnmal so hoch sei.«Immer en fliissige Bueb gsi»Stefan Kuster wuchs in einfachen Verhältnissen in Diepoldsau auf. Seine Eltern hatten einen Holzbaubetrieb. Die Kantonsschule besuchte er in Heerbrugg. Dem «Rheintaler» sagte eine in Berneck lebende Tante Kusters, er sei «immer en fliissige Bueb gsi» und zugleich «bescheide bis dött abi.»Fleissig ist Kuster zweifellos. Der 43-Jährige verfügt über einen Doppelfacharzttitel in Allgemeiner Innerer Medizin sowie in Infektiologie, einen Master of Clinical Epidemiology and Healthcare Research von der University of Toronto, einen Executive Master of Business Administration der Universität Zürich und einen Professorentitel. Vor seinem Stellenantritt beim BAG war er nebst verschiedenen Kaderfunktionen am Universitätsspital Zürich auch als Forschungsleiter beim nationalen Zentrum für Infektionsprävention Swissnoso tätig.Woher nimmt dieser so besonnen wirkende Mensch die Energie für all seine Errungenschaften? Kuster muss erst überlegen: «Ich glaube, es ist einfach Neugier. Die Neugier, neue Sachen zu lernen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen.» Wenn ihn etwas interessiere, wolle er das Thema vertiefen. So hätten sich die verschiedenen Stationen in seinem Leben eine nach der anderen von allein ergeben. Es sei keine Strategie, kein fixer Lebensplan im Hintergrund gewesen. Letztlich habe er sich immer von seiner Neugier leiten lassen und dabei grosses Glück gehabt, dass alles so gut geklappt habe, sagt der Chefarzt beinahe verlegen.Bei so vielen akademischen Titeln und Kaderpositionen muss Kuster schon sagenhaftes Glück gehabt haben. Mit «bescheide bis dött abi» hatte seine Tante wohl auch nicht unrecht.In erster Linie ein gesellschaftliches ProblemIn den letzten eineinhalb Jahren scheint jede zweite Person in diesem Land zum Infektiologen und Impfexperten mutiert zu sein. Alle meinen zu wissen, wie «verhältnismässig» die Massnahmen des Bundes und wie gut – oder schlecht – erforscht die Langzeitwirkungen der Covid-Impfung sind, was «die da oben» alles besser machen müssten.Stefan Kuster ist einer der wenigen Menschen in diesem Land, die wirklich verstehen, wovon sie sprechen, wenn sie über Corona reden. Ist es nicht manchmal frustrierend für ihn, der Kakofonie von Stammtischweisheiten und Falschinformationen zu diesem Virus zuzuhören? Er selbst sagt: «Ich glaube nach wie vor nicht, dass ich diese Krankheit und die Pandemie gut verstehe. Ich wurde seit Beginn der Pandemie schon häufig eines Besseren belehrt.»Was der optimale Weg sei, könne auch er nicht sagen. Die Bilanz könne erst ganz zum Schluss gezogen werden und er sei gespannt, ob der Schweizer Weg der richtige war. Bis dahin sei er froh um Meinungen aus allen Rich- tungen.Wirklich allen? «Verstehen Sie mich nicht falsch: Aus infektiologischer und wissenschaftlicher Sicht besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Impfung wirksam, sicher und der schnellste Weg aus dieser Pandemie ist.» Doch Corona sei in erster Linie nicht ein rein gesundheitliches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Daher müssten auch Lösungsansätze einen gesamtgesellschaftlichen Aspekt haben. Die weitverbreitete Impfskepsis in der Schweiz sei schon vor der Pandemie vorhanden gewesen. «Da müssen wir uns als Gesellschaft an der Nase nehmen und weiter in die Vergangenheit schauen, um herauszufinden, warum das so ist.»Es gab nie eine Alternative zur MedizinAuf die Frage hin, warum er Medizin studiert habe, tut sich etwas in Kuster. Seine Augenlider weiten sich, sein Lächeln wird noch etwas breiter und er sitzt ein bisschen aufrechter. «Die Medizin ist das faszinierendste aller Fächer», sagt er. «Es hat mit Menschen zu tun, mit Technik, juristischen, ökonomischen und biologischen Fragestellungen. Gleichzeitig ist es vor allem auch eine Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, das eine eigene Meinung hat.» Ausserdem könne man direkten und gezielten Einfluss auf das Wohlergehen eines Menschen nehmen. Das habe ihn immer sehr gereizt.Die Infektiologie wiederum sei innerhalb der Medizin das «mit Abstand spannendste Fachgebiet.» Denn nebst Arzt und Patient sei immer noch ein dritter Spieler mit von der Partie – ein Bakterium, ein Virus, ein Parasit oder ein Pilz. Und da Erreger sich sehr schnell über den ganzen Erdball verbreiten könnten, sei man ständig mit Kollegen aus aller Welt im Austausch. Kusters offensichtliche Leidenschaft für sein Fach ist so ansteckend, dass man sich als Journalist kurz fragt, ob man nicht vielleicht Medizin hätte studieren sollen.Was er heute wäre, wenn er nicht Mediziner geworden wäre, kann Kuster nicht sagen. Während seiner Kantizeit habe er einige Artikel für den «Rheintaler» geschrieben. Aber am Ende habe es nie wirklich eine Alternative zur Medizin gegeben.

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