Gert BrudererJa, Sergio Devecchi verbrachte seine ganze Kindheit selbst in einem Heim. Erst bei der Pensionierung bekannte er, ein Heimkind gewesen zu sein. Er hatte es aus Scham verschwiegen. Ein schmerzhafter Prozess der Aufarbeitung begann, ein Buch entstand – Devecchis Autobiografie. 2017 erschien sie beim Stämpfli-Verlag.Ein Titel lautete «Der Kinderknastkanton»Als die Jugendstätte 2014 ihr dreissigjähriges Bestehen feierte, war Sergio Devecchi zugegen. In seiner damals gehaltenen Rede bezog er sich auf einen Zeitungsbeitrag, der vor seinem Stellenantritt in Altstätten erschienen war, und der den Titel trug: «Der Kinderknastkanton». Im ersten Jahresbericht der Jugendstätte Bellevue von 1984 ist zu lesen, es sei nicht zu übersehen, dass «die ideologische Schlagwort-Opposition» gegen einen «Mädchenknast» eine gewisse Verunsicherung hervorrufe.In seiner Rede erinnerte Sergio Devecchi daran, dass zu Beginn der Achtzigerjahre «ein allgemeines Heimsterben von Institutionen der weiblichen Jugendhilfe» stattgefunden habe. Es habe der mehrmaligen Ermahnung durch den Bund bedurft, bis sich, drei Jahre nach abgelaufener Frist, auch für die weiblichen Jugendlichen etwas getan habe. In Altstätten ein Heim mit integrierter «Anstalt für Nacherziehung» aufbauen und führen zu wollen, wie diese Einrichtung laut Strafgesetzbuch genannt wurde, habe von der Stiftung Bellevue, aber auch vom Kanton Mut erfordert.Ort für junge Frauen mit belastender BiografieIn der Aufbauphase des Bellevues erschienen landesweit viele Medienbeiträge über die neue Einrichtung, die in der Erinnerung Devecchis «oft viel Unwahres und wenig Wahres zum Inhalt hatten».Im Bellevue-Jahresbericht von 1986 heisst es, die Anstalt für Nacherziehung als dritte Wohngruppe sei von den Jugendlichen akzeptiert worden, weil sie gewusst hätten, dass diese Einrichtung «nie zur Disziplinierung missbraucht» würde. Im Jahresbericht von 1984 ist von einem «Klima des Vertrauens» die Rede. Sehr schön beschrieb der erste Bellevue-Leiter die Institution einmal als «Ort, wo junge Frauen mit sehr belasteten Biografien Ressourcen tanken können für die Zukunft». In der stationären Betreuung Jugendlicher habe die Altstätter Jugendstätte eine wichtige Lücke ausgefüllt.Ein Leben, reich an AnekdotenNatürlich ist das Leben Sergio Devecchis reich an Anekdoten. Nach einer kaufmännischen Lehre und der Weiterbildung zum Sozialpädagogen leitete er über zwei Jahrzehnte ein Jugendheim in der Stadt Zürich. Er wurde Präsident von Integras, dem Schweizerischen Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik. In Altstätten soll einst ein Schreinerhandwerker trocken zu Sergio Devecchi bemerkt haben: «Sie sind aber schon no huere jung für so nen Lade.»Aus seiner dreijährigen Altstätter Zeit ist ein sonntägliches Erlebnis in lebhafter Erinnerung geblieben. Eines von fünf Mädchen aus der Anstalt für Nacherziehung fragte Sergio Devecchi, ob sie nicht auch das Recht auf einen Kirchgang hätten. «Sie liess nicht locker, redete von Religionsfreiheit und vom Recht auf Ausübung der religiösen Gesinnung.» Der Heimleiter liess sich erweichen und sagte zu, wenn auch unter der Bedingung, dass gemeinsam hingegangen und gemeinsam zurückgekehrt werde. In der Kirche «setzten sich alle brav in die hinterste Reihe», der Heimleiter sass in der Reihe davor. Als das Amen gesprochen war, bemerkte er mit grossem Schrecken, dass hinter ihm niemand mehr sass. Alle fünf Jugendlichen hatten sich aus dem Staub gemacht.«Man stelle sich so eine Geschichte heute, im Zeitalter von ‹Carlos› vor! Was für ein Geschrei und was für fette Titel in den Medien», resümierte Devecchi in seiner Rede von 2014. Nach wenigen Tagen allerdings «waren die fünf Kirchgängerinnen wieder da» und der Alltag nahm seinen gewohnten Lauf.HinweisSonntag, 22. Mai, 17.05 Uhr, Pfarreiheim Burg in Rebstein: Lesung mit Sergio Devecchi. (Ein Kulturprojekt «Sonntags 5 nach 5» der Pfarrei St. Sebastian Rebstein.)