Das letzte Rennen seiner Karriere bestritt Simon Vitzthum am Freitag, dem Dreizehnten. Dazu trugen er und sein Partner im Zweier-Mannschaftsfahren Madison, Alex Vogel aus Wittenwil TG, die Nummer 13. Diese Rückenbekleidung gaben die Organisatoren, weil Vitzthum auf der Bahn 13-mal Schweizer Meister wurde. 2022 gewann er als bisher Einziger fünf Goldmedaillen in einem Jahr.
Eine Stunde nach dem spektakulären Rennen stand der 29-Jährige neben Alex Vogel auf dem Siegerpodest. Sie trugen einen Sheriff-Hut, den Gewinner an der Track Cycling Challenge in Grenchen erhalten. Vitzthums breites Lachen fiel Moderator Franco Marvulli, 2004 in Athen Olympia-Silbergewinner im Madison, auf: «Wenn ich in Simons Gesicht schaue, bin ich ziemlich sicher, dass er solche Momente vermissen wird.»
Happy End nach einem typischen «Simi-Rennen»
«Grind abe und Vollgas», sagt Christof Bischof, früherer Mountainbike-Profi und langjähriger Wegbegleiter; ein richtiges
Simi-Rennen.
Nach der ersten gewonnenen Wertung zog «Simi» auf und davon. Den frühen Rundengewinn realisierte das Schweizer Duo mit den Briten Alfred Hobbs und Matthew Walls. Die zwei Teams lösten sich stetig an der Spitze ab, vor dem Endspurt lagen die Briten um einen Punkt vorne. In der Schlussphase konterte Vitzthum einen Angriff mit einer zwei Runden dauernden Attacke. Eine Runde vor Schluss lancierte er Vogel, der den Sieg sicher nach Hause brachte. Bereits am Nachmittag im Punktefahren war Vitzthum ähnlich angriffig aufgetreten. Er nahm’s mit drei Briten auf und wurde letztlich vom Omnium-Olympiasieger 2021, Matthew Walls, auf den zweiten Platz verwiesen.
Kampfgeist, Fokussierung und Teamfähigkeit
Der Kampfgeist, den Vitzthum in seinem letzten Rennen zeigte, war prägend für seine Karriere. Im ersten Abschnitt als Mountainbiker stand er ihm in der starken Ausprägung manchmal fast im Weg, oft wollte Vitzthum erzwingen, was nicht erreichbar war. Auf der Bahn, wo er die letzten sieben Jahre hauptsächlich verbrachte, brachte ihn auch diese Eigenschaft schnell an die nationale Spitze. 2022, in seinem besten Jahr, stieg Vitzthum als WM-Fünfter in Paris gar an die Weltspitze auf. Seine Zeit in der 4-Kilometer-Einzelverfolgung (4:07,326 Minuten) ist nach wie vor Schweizer Rekord, nach drei Kilometern lag er sogar vor Weltrekordhalter Filippo Ganna.
Rennfahrerkollegen streichen Vitzthums Positivität heraus und einige bewundern seine Fokussierung auf den Sport. Seine Teamfähigkeit zeigt sich am besten darin, dass er sein letztes Madison mit Alex Vogel als Partner bestritt. Der 25-jährige Thurgauer erhielt bei der Olympia-Selektion den Vorzug gegenüber Vitzthum. Die Nichtnominierung war eine grosse Enttäuschung, erschüttert hat sie Vitzthum aber nicht: «Das Selektionsverfahren verlief transparent. Alex hat den Startplatz verdient und als Ersatzfahrer war ich auch irgendwie Teil des Olympia-Projekts.» Vogel selbst hätte wohl am prestigeträchtigeren Sechstagerennen in Rotterdam starten können, entschied sich aber, einen Beitrag zu Vitzthums erfolgreichem Abschied zu leisten. Vitzthum bezeichnet die EM-Medaillen 2021 in Plovdiv (Bulgarien) und vor allem 2022 in Grenchen im Mannschaftszeitfahren als seine schönsten Erfolge: «Bronze 2021 war speziell, weil vor der EM nichts zusammenpasste, wir dort aber dreimal perfekt harmonierten. EM-Silber auf der Heimbahn war dann noch eine Steigerung und mein absolutes Highlight», sagt Vitzthum.
Würdiger Abschied nach einer grossartigen Karriere
Nach der allerletzten Zieldurchfahrt umarmte Simon Vitzthum Freundin, Familie und die vielen Kolleginnen und Kollegen, die zu seiner Verabschiedung kamen. Am Schluss der Ehrenrunde fuhr der Geehrte ins Velo-Spalier der Kolleginnen und Kollegen. Später feierte er mit vielen Menschen, die ihn während der 16-jährigen Karriere begleitet haben. Die Familie der Freundin hatte die Torte organisiert, seine Eltern Stephan und Mirtha sowie Schwester Fabienne kamen im dem Wohnwagen nach Grenchen. Vitzthums erster Trainer Markus Neff aus Thal war ebenso an der Feier im Velodrome wie sein letzter Anleiter, der frühere Bahn-Nationaltrainer Mickaël Bouget.
Seit August arbeitet Vitzthum für Swiss Cycling, am 1. November hat er die Vollzeitstelle als Leiter des Service Course angetreten. Der Seitenwechsel von der Bühne in den Hintergrund ist wörtlich zu verstehen: Wer durch die Katakomben auf die andere Seite der Radrennhalle geht, steht in der Werkstatt, in der Vitzthum nun wirkt. Er ist nun Chef der Schweizer Mechaniker und auch für die Versorgung der Rennteams zuständig.
Mein Aufgabenbereich geht vom Aufbau eines Olympia-Rennrads bis zum Waschmaschinen-Ausräumen oder Autoputzen.
Als die Stelle ausgeschrieben war, habe er gesehen, dass sie genau seinem Profil entsprach. Er ist zwar gelernter Tiefbauzeichner, hat aber schon lange als Mechaniker in Christof Bischofs Geschäft Bischibikes in Rorschach gearbeitet. Vitzthum war im Herbst 2023 ohnehin an einem Punkt, wo er sich über seinen Rücktritt Gedanken machte. «Die Anstellung sichert mir einen nahtlosen Übergang ins Berufsleben und ich bleibe dem Radrennsport verbunden.»
Schlüsselbeinbrüche waren ursächlich für den Rücktritt
Die Rücktrittsgedanken konkretisierten sich im Jahr 2023, weil Vitzthum gleich dreimal einen Schlüsselbeinbruch erlitt. Erstmals wurde ihm am eigenen Körper das Risiko bewusst, dem er sich als Radprofi aussetzt. Das senkte die Lust auf eine weitere vierjährige Olympia-Kampagne.
Auch weil ich bei den nächsten Spielen schon 33-jährig bin und die Quali keineswegs garantiert wäre.
Die Unfälle im vorletzten Jahr kosteten Vitzthum wohl auch die Olympia-Teilnahme 2024, denn die erste Verletzung ereilte ihn in dem Moment, in dem er auf dem Zenit stand.
Fast gleichzeitig mit Vitzthum treten sein einstiger Mentor Claudio Imhof, Nicoló De Lisi und Valère Thiébaud zurück. Ihre Rücktritte haben unterschiedliche Geschichten, hängen aber sicher zum Teil mit der finanziellen Unsicherheit eines Bahnfahrers in der Schweiz zusammen. «Für mich war das kein entscheidender Punkt», sagt Vitzthum. Dank treuen Sponsoren und auch der Tatsache, dass er bis zuletzt daheim wohnte, sei er stets gut über die Runden gekommen.
Sein Karriereweg – vom Mountainbike auf die Bahn – war aussergewöhnlich, für Vitzthum ging er jedoch auf. Vielleicht hätte er mehr erreicht, wenn er früher umgeschwenkt wäre. «Aber als Ostschweizer ist Bahnfahren frühestens mit 18 Jahren eine Option, wenn man einen Auto-Führerschein besitzt, um nach Grenchen zu fahren», sagt er. Was ihm von seiner Karriere als Andenken bleibt, sind nicht primär Medaillen und Rekorde, sondern «die vielen Freundschaften, die ich mit Menschen über den Globus verteilt geschlossen habe, und die mir auch in Zukunft das Reisen erleichtern.»
Dass er nie mehr Rennen fährt, glauben nicht alle
Simon Vitzthum wohnt jetzt mit seiner Freundin Selina Ummel in Suhr im Kanton Aargau. Sie ist eine der besten Langstreckenläuferinnen der Schweiz, 2023 wurde die Athletin des BTV Aarau Schweizer Meisterin über 10 Kilometer. Die 27-Jährige verfolgt weiterhin grosse Ziele. Simon Vitzthum trainiert manchmal mit ihr, gestern Sonntag nahmen sie in der Sie + Er-Kategorie am Zürcher Silvesterlauf teil. Auf dem Velo schliesst Vitzthum weitere Renneinsätze aus:
Ich kann mit weniger Training nie mehr das gewohnte Leistungsniveau erreichen – zudem würden bei einem kleineren Rennen alle einen Sieg von mir erwarten.
Er mache noch bei Gran Fondos oder bei «Chasing Cancellara» mit, aber nicht mehr bei einem Rennen, wo es darum geht, als Erster ins Ziel zu kommen.
Aber nicht alle glauben ihm, der als Aktiver nie genug Rennen bestreiten konnte, dass er nie mehr am Start steht. Sogar sein Vater Stephan Vitzthum ist skeptisch:
Ich kann mir gut vorstellen, dass Simi bei einem kleineren Rennen wie in Altstätten nochmals an den Start geht.