Die Tür ist von aussen verschlossen. Rebekka Meili steht am offenen Fenster, zupft Flusen von ihren Wollsocken und bereitet sich darauf vor, in wenigen Minuten ihre Zelle zu verlassen. Eine ganze Woche hat sie darin verbracht. Allein und ohne Komfort. Gleich werden Ruhe und Einsamkeit schwinden. Vor der Tür erwartet Rebekka Meili eine kleine Gruppe. Diese will die Einsiedlerin auf Zeit mit einem Öffnungsritual zurück in die Gesellschaft begleiten.Sieben Tage lang wie die heilige Wiborada lebenRebekka Meili ist eine von zehn Inkluserinnen und Inklusern, die sich am Wiboradaprojekt beteiligt haben. Jeweils sieben Tage lang haben sie nachempfunden, was Wiborada gefühlt haben könnte, als sie im zehnten Jahrhundert in der St. Galler Kirche St. Mangen freiwillig als Einsiedlerin eingemauert war. Wiborada verliess die Zelle nicht mehr. Sie wurde in ihr erschlagen und liegen gelassen. Im Jahr 1042 war sie die erste Frau, die je ein Papst heilig sprach.Das ökumenische Projekt «Wiborada 2021» hat die katholische Seelsorgerin Hildegard Aepli initiiert und sich als ers-te Inkluserin einschliessen lassen. Am Samstag vergangener Woche hält sie den Schlüssel in der Hand. Sie öffnet die Tür zu der an die Kirche angebaute und zwölf Quadratmeter grosse Holzzelle für Rebekka Meili und zum Abschluss des Projektes.Alle Augen sind auf die junge Frau gerichtet, die gerade eine ihrer intimsten Zeiten erlebt hat. Etwas verlegen zwar, aber gelassen mischt sich Rebekka Meili unter die Menschen. Die einen haben selbst in der Zelle ausgeharrt, andere haben sich mit Ideen, Zeit und Gaben am Projekt beteiligt. Mit einer kurzen Feier findet es nun sein Ende und die junge Frau einen Schritt zurück in ihre vertraute Umgebung.Rebekka Meili ist dreissig Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Berneck. Sie wuchs in Büren an der Aare auf und ist seit 2017 reformierte Pfarrerin. Eine feste Pfarrstelle hat sie nicht, sie leistet hier und da Stellvertretungen. Mit einer gesteigerten Form der Stille – wie in der Wiboradazelle – hat sie schon in einem buddhistischen Kloster in Thailand Erfahrungen gesammelt. «Dort habe ich Blut geleckt», sagt sie. «Wir leben in einer lauten Welt, haben Wohlstand und Ablenkung.» Nach dem zu suchen, was einen erfülle, entspreche dem Zeitgeist. Manche versuchen es über die Ernährung, andere über Yoga oder religiös motivierte Stille. Die reformierte Pfarrerin legt ihren Fokus nicht auf ihre Religion. «In Stille und Mystik treffen sich alle Religionen», sagt sie.Als Mitglied einer Kirche, die in der Reformation den Heiligenkult massiv in Frage stellte, sieht Rebekka Meili keinen Widerspruch darin, mit einer Heiligen in Verbindung gebracht zu werden. «Die reformierte Kirche geht mehr mit dem Zeitgeist als die katholische», sagt sie. Wiborada sei ihr in dieser Woche in der Zelle nah und fremd zugleich gewesen.Acht Liter Wasser für den ganzen Tag«Ich hatte nicht gedacht, dass ich so sehr eingeschränkt sein würde.» Körperlich hat sich die Inkluserin kaum bewegen können. Sie ist darauf angewiesen gewesen, von aussen mit Nahrung versorgt zu werden. «Wiborada hat sicher auch schöne Seiten erlebt.» Rebekka Meili hat der Kontakt nach aussen gefallen. Sie hat zweimal täglich das kleine Zellenfenster eine Stunde lang geöffnet und viel Zuwendung erfahren. Fremde Menschen haben ihr Mahlzeiten, Steine und warme Socken gebracht oder sich mit ihr ungezwungen unterhalten. Die Gespräche sind frei von Verpflichtungen oder Erwartungen ge-wesen, da wohl auf diese eine Begegnung begrenzt.Vermisst hat Rebekka Meili «gar nichts». Weder materiell noch emotional. Teilweise hat sie gefroren. Die Zelle liegt ganz im Schatten und ist nicht beheizt. Um sich aufzuwärmen, ist sie auf der Stelle gejoggt oder wie ein Hampelmann gehüpft. Mitgebracht hat sie nebst ihrer Kleidung nur Bettwäsche und das Nötigste für die Körperpflege. Ein Toi-Toi-WC und ein Tank mit acht Litern Wasser pro Tag haben in der Zelle gestanden. Das reichte, um sich zu waschen und zu trinken. Ein Meditationskissen mit Timer und ein Schnitzmesser hat sie genutzt, um sich zu beschäftigen. Mit Letzterem hat sie einen Löffel aus Holz geschnitzt. «Fertig geworden ist er nicht.»Gefestigt hat sich ihr Glauben daran, dass alles, was passiert, gut ist. «Es fällt mir leichter, mir diese Haltung anzueignen, wenn ich nicht allem mit Widerstand begegne», sagt sie.Weiter hat Rebekka Meili, wie die übrigen neun Inkluserinnen und Inkluser, ins gemeinschaftliche Tagebuch geschrieben. Später ist es in der Stiftsbibliothek öffentlich zugänglich. Am Freitagabend hat sie über den Viertelfinal der Schweizer Fussballnati gegen Spanien geschrieben. Durch die dünnen Holzwände der Zelle hat sie das Penaltyschiessen verfolgt. «Ich habe die Schreie gezählt, die ich aus dem benachbarten Park gehört habe», sagt sie. «Es war eine schöne Stimmung und ich habe mich gern mitreissen lassen.» Dass dann doch Spanien gewonnen hat, ist ihr klar geworden, als sie Fluche auf die Gewinner verstanden hat. «Das Gefühlschaos der Leute draussen, hat mich in der Zelle ergriffen.» Danach ist sie froh gewesen, wieder in ihren gelassenen Zustand zurückkehren zu können.Gegen Ende des Gesprächs denkt Rebekka Meili wieder an zu Hause: «Nachher gehe ich ins Maz schwimmen.»