24.06.2022

Verwoben mit dem Leben

Nesa Gschwend nähte emotionale Erinnerungen zu vielschichtigen Kunstwerken. Viel zu früh ist ihr Lebensfaden gerissen.

Von Corinne Schatz
aktualisiert am 02.11.2022
Im Winter 2019/20 zeigte die Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell ei­ne grosse Ausstellung von Nesa Gschwend, der Altstätter Künstlerin, die seit Ende der Achtzigerjahre mit ihrem Mann, dem Theatermacher Jörg Bohn, und zwei Söhnen im Aargau lebte. Dass dies eine ihrer letzten Einzelausstellungen werden sollte, konnte niemand ahnen. Am 30. Mai ist Nesa Gschwend nach kurzer Krankheit im Alter von 62 Jahren gestorben.Es war das Jahr 1986, als sich in St. Gallen die Kunde ver­breitete, man müsse unbedingt eine Performance von Nesa Gschwend sehen. Wer ihre erste Performance «Häutung» erlebte, war zutiefst beeindruckt von der expressiven Kraft der Künstlerin. Sie kam damals aus Berlin, wo sie ab 1980 gelebt, das Aktionstheater PanOptikum mitgegründet und Performances entwickelt hatte.Die Welt des experimentellen Theaters hatte die junge Frau schon kurz nach Abschluss ihrer Schneiderausbildung nach Bologna an die Nuova-Scena-Theaterschule geführt. Und Performance blieb ein prägendes Ausdrucksmittel der Künstlerin. Zeichnung und Malerei, Objektkunst und Installation, Fotografie und Video kamen in wechselnder Bedeutung dazu. Zeitlebens beschäf­tigte sie sich mit dem Gesicht, jedoch nicht im Sinn von Porträts. Es ist die Unfassbarkeit des menschlichen Ausdrucks, welche sie in frühen, blind entstandenen Zeichnungen bis zu den grossformatigen, aus Haaren und Fäden gezeichneten «Humans» aus den letzten Jahren faszinierte.Familiengeschichte wird zu KulturgeschichteNesa Gschwends ganzes Schaffen ging vom Handeln aus, von der Arbeit mit dem Körper und mit den Händen, die in einen intensiven Dialog mit den Materialien gesetzt werden. Zugleich lag ihrem Schaffen immer eine intensive philosophische Reflektion zugrunde. Es tritt darin eine Haltung zutage, die die manuelle Arbeit als – wie sie es nannte – «Denken mit den Händen» mit der Leistung des Intellekts gleichstellt.Die Materialien, die Nesa Gschwend für ihre Arbeit wählte, wie Textilien, Wachs, Pflanzliches oder eben Haare, waren immer mehr als rein ästhetisches Mittel. Sie sind erfüllt von inhaltlichen Bedeutungen, und ihre Transformation ist der ei­gentliche Gehalt des Werkes.So ist der Umgang mit den Materialien ein gestalterischer ebenso wie ein sozialer, kulturgeschichtlicher oder auch biografischer. Zu sehen ist dies in den Werkgruppen aus Textilien, die sie beim Räumen des Elternhauses in Altstätten entdeckt hatte.Die Vorstellung, dass diese von ihren Vorfahren bestickten Lein- und Tischtücher oder Taufkleidchen zugleich Speicher sind für eine Generationen umfassende Familiengeschichte, prägte ihren Umgang damit. In der Umwandlung zu künstlerischen Objekten erweiterte sie diese persönliche Dimension um die vom Textilen geprägte Kulturgeschichte der Region.Immer wieder fand die Künstlerin bei längeren Aufenthalten in Ländern wie Indonesien oder Indien in der Begegnung mit den Menschen und der Kultur Anknüpfungspunkte für ihr Schaffen. So arbeitete sie in den letzten Jahren mit etwa 1700 Menschen aus 65 Nationen an ihrem wohl grössten Projekt, den «Living Fabrics». Entstanden sind zahlreiche Bildteppiche, die beim gemeinsamen Nähen und Sticken aus Kleidern erschaffen wurden.Dieses Projekt steht exem­plarisch für Nesa Gschwends Selbstverständnis als Mensch und Künstlerin: «Der Faden und der Stoff werden zum Symbol für das Leben und für das Eingewobensein in die Gesellschaft.»Nesa Gschwends Lebensfaden ist viel zu früh gerissen; im Gewebe ihrer Kunst, das unzählige Menschen vereinigt hat, bleibt sie gegenwärtig.

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