28.05.2021

«Vergiss mich nie»

Kürzlich war in «Der Rheintaler» den Artikel «Ich, 14, Verdingkind». In ihm ist beschrieben, wie zwei St. Galler Studentinnen in der Instagram-Serie «Vergiss mich nie» ein dunkles Kapitel der Geschichte beleuchten. Die Studentinnen sagen: «Wir waren erstaunt, dass in der Schweiz so etwas möglich war.»

Von Andreas Brändle
aktualisiert am 03.11.2022
Dass junge Menschen dieses schwierige Thema «Verdingkinder» aufgreifen und bearbeiten, finde ich bemerkenswert. «Vergiss mich nie» – da möchte ich mit folgendem Erlebnis gern meinen Beitrag leisten. Vreni war eine ältere Frau, die auf dem Hof ihres Sohnes und deren Familie in einem kleinen Stöckli wohnte. In der Kirche fiel sie mir auf, weil sie eine sonnige Ausstrahlung hatte. Beim Seniorennachmittag lernte ich sie und ihre Geschichte etwas näher kennen.Im hohen Alter begann sie noch, ein neues Musikinstrument, das Schwyzerörgeli, zu erlernen. Als wir dann in die Gemeindeseniorenferien fuhren, ermunterte ich sie, doch ihr Schwyzerörgeli mitzunehmen. Jeweils am Abend sassen wir alle noch zusammen und sangen vom «Burebüebli», «Alls, was bruchsch uf er Wält, isch Liebi» bis zum «Schacherseppeli». Immer wieder bat ich sie, doch das Örgeli zu bringen und mit uns zu spielen und zu singen. Es müsse ja nicht perfekt sein, wir seien ja unter uns. Nach langem Zögern und viel Überzeugungsarbeit nahm sie dann ihr Örgeli doch einmal mit und spielte ein Stück. Als sie so spielte, unterlief ihr ein aus meiner Sicht ganz kleiner Fehler. Sofort hörte sie auf, packte das Örgeli zusammen und verschwand. Ich lief ihr nach, weil ich das Verhalten nicht verstand und vielleicht auch, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, war ich es doch gewesen, der sie zum Vorspielen überredet hatte. Da sass sie dann traurig in ihrem Zimmer und sagte: «Weisst du Andreas, damals als Kind, als Verdingkind, immer wenn ich einen Fehler machte, dann gab es Ohrfeigen, Schläge und böse Worte. Und auch heute noch, immer, wenn ich einen Fehler mache, dann renne ich weg, das ist tief in mir drin, ich bring das nicht weg, ich kann nicht anders.»Das hat mir sehr zu denken gegeben und das Bibelwort von Jesus kam mir in den Sinn: «Lasst doch die Kinder! Hindert sie nicht daran, zu mir zu kommen. Denn für Menschen wie sie ist das Himmelreich da.» (Mt 19, 14)Vergessen wir nicht, tragen wir Sorge zu unseren Kindern, auch zu dem Kind in uns!Andreas BrändlePfarrer in Diepoldsau

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