02.12.2020

Vergessener Auftakt zum Dialog

Vor 75 Jahren wurden im Heim Sonneblick bedeutsame Thesen gegen den Antisemitismus verabschiedet.

Von Hanspeter Strebel
aktualisiert am 03.11.2022
Wenn es um die Erinnerung an Flüchtlingspfarrer Paul Vogt geht, ist auf das Gedächtnis von Adrian Keller Verlass, dem Geschäftsleiter der Stiftung Sonneblick und «Hausvater» bis zur Schliessung der als Asylzentrum vorgesehenen Gasthäuser. «Da war was vor 75 Jahren», sinnierte er in kleinem Kreis an einer kürzlichen Sitzung. Im Jahresbericht 1945/46 des Evangelischen Sozialheims Sonneblick ist ein Kurs «Deutschtum und Judentum» mit 34 Personen und 238 Verpflegungstagen vom 19. bis 26. November 1945 vermerkt. Kein Wort zum Ergebnis dieser Studienwoche. Erst 1975, beim 30-Jahr-Jubiläum des «Sonneblick», wird unter «Wichtige Daten» das Ergebnis dokumentiert, das heute als bedeutsames Dokument der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum in unserem Land gelten darf.Frühere Thesen abgeschwächtWeshalb sind die Walzenhauser Thesen fast vergessen? Adrian Keller mutmasst, der Kreis der Teilnehmenden sei relativ klein und mit wenig Prominenz besetzt gewesen. Zudem könnten sie von den 1947 publik gewordenen und bekannteren «Seelisberger Thesen», einer grossen internationalen Konferenz von Christen und Juden, in den Hintergrund gedrängt worden sein. Eine weitere Erklärung liesse sich aus Hermann Kochers Dissertation «Rationierte Menschlichkeit» zum schweizerischen Protestantismus in der Flüchtlingsfrage von 1933 bis 1948 herauslesen. Sie berichtet von einer auch im «Sonneblick» tagenden Studiengruppe unter Paul Vogt, die bereits Ende 1943 eine «streng vertrauliche» Fassung von Thesen zuhanden des Kirchlichen Hilfskomitees verabschiedete, die in Vogts Nachlass im Archiv für Zeitgeschichte der ETH aufbewahrt ist. Darin zeigt sich, dass nicht nur über Flüchtlinge debattiert wurde, sondern ein Gespräch zwischen Flüchtlingen und Aktivisten der kirchlichen Flüchtlingsarbeit geführt wurde.Bild: Emigranten zu Gast im «Sonneblick».Zentral waren Aspekte der Selbstverpflichtung und der Selbstkritik. An der Abgeordnetenversammlung der Kirchenbundes wurde zum Ärger Paul Vogts eine abgeschwächte Fassung des Walzenhausers Papiers vorgelegt. Unter anderem fehlte eine Formulierung, in der von einer «Abschaufelung» von der Kirche anvertrauten Flüchtlingen die Rede war, wie es oft geschehen sei. Die scharfe These, in der Antisemitismus als «Gottlosigkeit» bezeichnet wurde, formulierte der Vorstand des Kirchenbundes um zur «zahmeren» Form, Antisemitismus und christlicher Glaube seien unvereinbar.Heinrich Rusterholz, ehemaliger Präsident des Rats des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, widmet in seinem Werk «... als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde» über das Wirken von Paul Vogt und Karl Barth den Thesen von Walzenhausen ein Kapitel. Er verweist auf verschiedene Studienwochen im «Sonneblick» während des Kriegs, an denen Christen und Juden, Schweizer und Flüchtlinge, zu gemeinsamer Arbeit fanden. Die Woche unter dem Titel «Deutschtum und Judentum» sei «eines der schönsten Ereignisse» gewesen.Um die Besprechungen der Studienwoche fruchtbar zu gestalten, habe sich eine Arbeitsgemeinschaft von Christen und Juden gebildet. Das Ziel der Zusammenarbeit wurde in sechs Punkten festgehalten: Bekämpfung des Antisemitismus, Aufklärung über das Wesen des Judentums, vorurteilslose Darstellung der Ursprünge des Christentums, Erziehungs- und Bildungsfragen, Verantwortung von Behörden und Institutionen und Notwendigkeit von lokalen Zusammenkünften.Rusterholz spricht von der «zweiten Erklärung von Walzenhausen», nachdem die erste, mit 15 Thesen ausführlichere Fassung von 1943 als «streng vertraulich» nur abgeschwächt weiter behandelt worden war. Vogt gab nicht auf. In den Walzenhauser Thesen von 1945 wird Antisemitismus nicht minder eindeutig als «antiethisch» und «antichristlich» bezeichnet, deren Natur es zu demaskieren gelte. Unter den Unterzeichnenden des Papiers finden sich – im Gegensatz zu 1943 – auch Frauen, darunter «Flüchtlingsmutter» Gertrud Kurz als bekannteste Persönlichkeit und Vertraute von Paul Vogt.Starkes Zeichen der VersöhnungAdrian Keller betont, die Studienwoche, aus der die Thesen herausgewachsen sind, sei für Paul Vogt im Blick auf seine persönliche Entwicklung in der Einstellung zu Jüdinnen und Juden sehr bedeutsam gewesen. Ihm sei klar geworden, dass es nur ein Zusammenleben im Dialog geben könne. «Die Woche ist ein starkes Zeichen der Versöhnung im Gedenken an alle Juden, die an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden und so dem Tod nicht entkommen konnten», bilanziert der Geschäftsleiter der Stiftung Sonneblick.Ernst Ludwig Ehrlich, Zentralsekretär der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft, würdigte im Festreferat zum 50-Jahr-Jubiläum der CJA 1996 im Beisein von Bundesrätin Ruth Dreifuss das «fast vergessene» Ereignis von Walzenhausen als sehr bedeutsam. «Wenn wir diese Thesen heute auf uns wirken lassen, so erscheinen sie uns zwar als eine Art Binsenwahrheit. Freilich sind sie aber noch heute nicht Allgemeingut sämtlicher Schweizer geworden», sagte Ehrlich.

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