Urchiges Brauchtum ist im Grunde genommen nichts Anderes als bäuerliche Tradition. Selbst wer nicht den mindesten Bezug zur Landwirtschaft hat, kommt einmal im Jahr doch mit ihr in Kontakt, nämlich wenn Viehschau ist. Und die ist sogar – oder gerade – im städtischen Altstätten eine Attraktion.Zu einer traditionell gestalteten Viehschau gehört eine sennische Auffuhr, also der Anmarsch mit dem Vieh, begleitet von Treibern in Tracht. Wegen des Verkehrs, im Besonderen von Marbach und Balgach her, tun sich das immer weniger Bauern an. Sie sind heute praktisch gezwungen, ihre Kühe mit Traktor und Anhänger auf den Viehschauplatz zu fahren. Manche halten dennoch an der sennischen Auffuhr fest. Im Besonderen Karl Räss von der Wart ob Altstätten, und dies, obwohl sein Anmarsch gut zwei Kilometer der viel befahrenen Stossstrasse entlang führt.In der Regel verhielten sich die Leute ja rücksichtsvoll und geduldeten sich, sagt Räss. Lediglich einmal habe ein Töfffahrer partout nicht hinterher fahren wollen. Er habe versucht, zu überholen und sei mitten in die Herde hinein gefahren. Dabei fuhr er Karl Räss’ Vater um, der sich dabei das Handgelenk brach. Räss wünschte sich deshalb, der hinterher fahrende Verkehr dürfte für die halbe bis Dreiviertelstunde, die für den Viehtrieb benötigt wird, wie früher über die Alte Stossstrasse umgeleitet werden.Der Grossteil der Leute wisse aber die gelebte Tradition zu schätzen, sind Karl Räss und seine Frau Sonja überzeugt. Tatsächlich findet sich jedes Jahr ein stattliches Publikum schon zur Auffuhr in Altstätten ein, nur um zu sehen, wie die Familie Räss und ihre Helfer in Appenzeller Tracht mit einem Schuppel weisser Appenzellergeissen vorneweg und einer stattlichen Herde Kühe und Rinder zielstrebig die Gerbergasse hinauf zur Breite marschieren.Karl Räss freut das Publikum, auch dass manche Zuschauer applaudieren. Das zeigt ihm, dass der Bauernstand doch noch geschätzt wird. Das ist ihm auch jedes Mal Entschädigung für den Aufwand. Die Vorbereitungen dauern für die Familie Räss nämlich fast eine Woche, vor allem weil die ganze Stossstrasse von der Wart bis in die Stadt hinab beidseitig einzäunt wird, wo nicht schon eine andere Abschrankung wie eine Leitplanke steht. Um die hundert Pfähle sind dafür nötig. Am Vorabend werden dann die Tiere mit einem Hochdruckreiniger abgespritzt. «Selbstverständlich nicht scharf», stellt Karl Räss klar, sondern mit an der Lanze offener Düse. Für die Kühe sei das wie eine Wellnessbehandlung. Man merke ihnen auch an, dass sie es mögen. Am Morgen der Viehschau ist dann bereits um halb drei Uhr Tagwache. Die Kühe werden gefüttert, gemolken, gebürstet und geschmückt. Und zuletzt putzt man sich auch noch selbst heraus.Ob es heuer eine Viehschau geben wird, ist ungewissDie Appenzeller Tracht ist in Karl Räss’ Fall durchaus authentisch. Er ist zwar schon in der Wart ob Altstätten aufgewachsen; seine Wurzeln hat er aber im Appenzellerland – was man ihm auch anhört, wenn man sich mit ihm unterhält. Er hat die Mundart ebenso vom Vater übernommen wie die Liebe zur Viehschau, auf die er sich jedes Jahr freut. Ob es dieses Jahr eine geben wird, ist allerdings noch offen. Appenzell Ausserrhoden hat wegen Corona bereits alle Schauen abgesagt. Altstätten könnte dies auch blühen. Karl Räss würde es zwar bedauern, «aber wenn’s halt so sein soll, ist’s halt so», meint er.An der Viehschau teilzunehmen ist für ihn Berufsehre. Er ist stolz auf sein Vieh, das er selbst gezüchtet hat: «In unserem Stall steht keine einzige gekaufte Kuh», betont er. Die Viehschau gebe Gelegenheit, die Zucht mit jener anderer Bauern zu vergleichen. «Schön ist’s, wenn man mithalten kann und das eine oder andere Tier auch noch ausgezeichnet wird», meint er. Die letzten Jahre war dies durchaus der Fall. Siebenmal schon hatte die Familie Räss nach der Viehschau eine Miss im Stall stehen, andere Male gewann eine Kuh aus dem Stall Räss den Schöneuterpreis. «Schön ist’s aber auch, wenn nach der Schau wieder alle, Leute und Vieh, heil zurück sind», fügt Sonja Räss an.