21.10.2021

«Unverhältnismässige Gewaltanwendung»

Alt Bundesrichter Niklaus Oberholzer untersuchte auch die Vorfälle im Bundesasylzentrum Altstätten. Die Strafuntersuchungen sind pendent.

Von Marcel Elsener
aktualisiert am 03.11.2022
Im Mai und im Dezember 2020 sollen Sicherheitsdienstleute im Bundesasylzentrum Altstätten (BAZ) gegen minderjährige Asylsuchende gewalttätig geworden sein. Die Vorwürfe waren diesen Frühling aufgrund von Recherchen der SRF-Rundschau und der Wochenzeitung WOZ bekannt geworden; diese stützten sich auf Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International.Der St. Galler alt Bundesrichter Niklaus Oberholzer hat im Auftrag des Staatssekretariats für Migration die mutmasslichen Gewaltvorfälle im Welschland (Boudry), in Basel-Stadt sowie in Altstätten untersucht. In dem über 100-seitigen Bericht, der am Montag publiziert worden ist, nehmen die beiden Fälle in Altstätten sechs Seiten ein. Als Untersuchungsbeauftragter griff Oberholzer in sechs der sieben Vorkommnisse auf eingeleitete Strafuntersuchungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zurück. Die Tatsache der mehrheitlich bereits hängigen Strafuntersuchungen belege, dass der Rechtsschutz bei Gewaltanwendung in Asylzentren des Bundes funktioniere und eine unabhängige Untersuchung gewährt sei, wie er feststellt.Jugendlicher hält sich nicht an MaskenpflichtDer gravierendere der beiden Fälle im BAZ Altstätten trug sich am 20. Dezember 2020 zu und wurde auch in dieser Zeitung beschrieben: Ein unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMA) ging nach Mitternacht ins Freie, um eine Zigarette zu rauchen. Er kehrte ohne Maske in das Gebäude zurück, worauf es zum Streit mit dem Sicherheitsdienst kam und der Jugendliche über Nacht in die Schleuse musste. Am folgenden Tag stellte die Sonderpädagogin beim Mann, den sie betreute, Verletzungen fest. Diese benötigten Pflege im Kinderspital St. Gallen. Im Austrittsbericht des Spitals werden «verschiedene Prellmarken und Hämatome am rechten Gesicht und der linken Körperhälfte, eine Lockerung von drei Zähnen sowie Kontusionen an Kopf, Thoraxwand, Bauch, Schulter links, Arm links und Knie links diagnostiziert».Im Rapport führte der Sicherheitsdienst aus, der Mann habe alle Anweisungen missachtet und sei gewalttätig geworden, worauf man ihn am Boden fixiert habe. Die Verletzungen wurden jedoch nicht erwähnt. Demgegenüber erklärte der Mann, er habe sich nach der Zurechtweisung wegen der Maske für die Schleuse entschieden, weil er sonst sein Handy hätte abgeben müssen. Nachdem ihm die Bitte um eine Matratze verwehrt worden sei, sei er massiven Übergriffen ausgesetzt gewesen, wie der Fachbereichsleiter Sozialpädagogik festhält. «Er sei von Sicherheitsmitarbeitenden mit den Knien in verschiedene Bereiche des Körpers getreten worden und habe Verletzungen an Kopf, Nacken, Brustkorb, Beinen und Füssen davongetragen. Zudem sei er zu Boden gedrückt worden und habe mehrmals fast keine Luft mehr bekommen. Er habe sich mehrmals übergeben müssen, dies mit Blut, Schaum und weissem Auswurf.» Im Gegensatz zum Sicherheitsdienst stellt der Sozialpädagoge fest, dass sich der Jugendliche im BAZ Altstätten «immer sehr normal und anständig» verhalten habe sowohl gegenüber Erwachsenen als auch gegenüber den anderen Jugendlichen.«Die Verletzungen stehen in keinem Verhältnis»Der Auslöser für die Intervention war «reichlich banal», stellt Oberholzer fest. «Von einem professionellen Sicherheitsdienst darf ohne weiteres erwartet werden, dass er die Hausordnung in einem Bundesasylzentrum in aller Regel auch ohne Anwendung körperlicher Gewalt durchsetzen kann. Dies gilt umso mehr, wenn es ‹nur› um die Befolgung der Maskenpflicht durch einen minderjährigen Asylsuchenden geht, der (...) bis anhin in keiner Weise durch unangepasstes Verhalten in Erscheinung getreten war.»Die im Kinderspital diagnostizierten Verletzungen stehen laut dem Berichterstatter «in keinem Verhältnis zu dem ihm zur Last gelegten Fehlverhalten.» Das Missverhältnis zwischen dem banalen Anlass und den schwerwiegenden Folgen der Intervention deute «auf eine unnötige oder zumindest unangemessene und damit unverhältnismässige Gewaltanwendung hin», schreibt Oberholzer. Erschwerend komme hinzu, dass im Rapport des Sicherheitsdienstes nur von einer Fixierung am Boden die Rede war und die Verletzungen mit keinem Wort erwähnt wurden. «Obwohl die Voraussetzungen klar erfüllt waren, zogen die Mitarbeitenden des Sicherheitsdienstes weder das UMA-Team bei noch informierten sie die Polizei. Trotz klar erkennbarer Verletzungen unterliessen sie es, für eine hinreichende medizinische Betreuung des UMA zu sorgen.» Ein sachlicher Grund dafür, dass der Jugendliche die Nacht ohne Matratze in der Schleuse verbringen musste, sei nicht ersichtlich.Die von der Staatsanwaltschaft St. Gallen auf Veranlassung des Kinderspitals und des Fachbereichs Sonderpädagogik am BAZ Altstätten geführte Strafuntersuchung wird laut Oberholzer zeigen, wie dieses Verhalten unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen sei. Die beteiligten Securitas-Mitarbeitenden wurden längst suspendiert. Ob gegen sie Anklage erhoben wird, ist laut Auskunft der Staatsanwaltschaft St. Gallen Sache des Bundes. Da die Sicherheitspersonen aufgrund ihrer Funktion im BAZ Altstätten als Beamte des Bundes gelten und deshalb unter das Verantwortlichkeitsgesetz fallen, muss vor Eröffnung eines Strafverfahrens eine Ermächtigung durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) erteilt werden. Die Staatsanwaltschaft habe die nötigen Vorabklärungen durchgeführt und dem EJPD die Beweismittel zugestellt, lässt sie verlauten. Nun werde das EJPD darüber befinden, «ob eine Ermächtigung erteilt wird und somit ein Strafverfahren zu eröffnen ist».Aggressionen auf beiden SeitenAuch im zweiten Fall in Altstätten geht es um einen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, über dessen Behandlung sich eine juristische Mitarbeiterin der Caritas beim SEM beschwerte. Sie beobachtete am Empfangsschalter, wie mehrere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes einen Jugendlichen mit Gewalt anpackten und «kraftvoll gegen die Glaswand» schlugen. Der UMA habe heftig geweint und geschrien, aber selbst keine Gewalt ausgeübt. Das SEM befragte in der Folge die beteiligten Mitarbeitenden der Betreuung und Sicherheit sowie die zuständige Sozialpädagogin. Diese sagten aus, dass der Asylsuchende «vermehrt durch stark selbst- und fremdgefährdendes Verhalten aufgefallen» sei. Im unmittelbaren Vorfeld der Szene im Eingangsbereich habe der UMA «wiederholt durch akut selbstverletzendes Verhalten gegen die Hausordnung protestiert» und mit Gewalt reagiert, weshalb er von Sicherheitsmitarbeitenden an den Armen festgehalten und «zur Stabilisation gegen die Glasscheibe gedrückt» worden sei. Das SEM sei sich bewusst, dass «derartig unschöne Vorkommnisse von aussen und aus dem Gesamtzusammenhang genommen als grobe Gewalt wahrgenommen werden könnten». Gestützt auf die unabhängigen Aussagen der Mitarbeitenden, die diesen Vorfall sowie die Ereignisse, die dazu führten, beobachtet hatten, und vor dem Hintergrund der drohenden Selbstverletzung erachte das SEM die Intervention des Sicherheitspersonals in diesem Fall jedoch als verhältnismässig.Das SEM habe ihre Beobachtungen bagatellisiert und den Gewaltakt gerechtfertigt, sagte die Caritas-Mitarbeiterin gegenüber Oberholzer. Zudem fehle jede Aussage des Jugendlichen. Einen psychisch belasteten und sich anscheinend auch selbstverletzenden und wehrlosen Jugendlichen derart gewaltvoll anzupacken, sei in einer Einrichtung für Schutzsuchende schockierend.«Isolierte Beobachtung einer einzelnen Szene»In seiner Würdigung geht Oberholzer ausführlich auf den Fall des Jugendlichen ein, der wegen seines Verhaltens zwecks Sondersettings und Time-outs vom BAZ Zürich nach Altstätten verlegt wurde. Der Vorfall zeige einmal mehr auf, in welch schwierigem Umfeld sich die Mitarbeitenden der Asylzentren bewegten, stellt er fest. Aus seiner Sicht sei dem Antwortschreiben des SEM jedoch nicht viel beizufügen. «Wird allein eine sehr kurze Sequenz aus einem Gesamtgeschehen beobachtet, kann dies durchaus zu einer möglicherweise falschen Bewertung der Ereignisse führen.» Die Beobachtungen der Mitarbeiterin der Caritas wie auch die Intervention des Sonderberichterstatters UNHCR beziehen sich laut Oberholzer auf eine «Episode aus einem rund vierstündigen Gesamtgeschehen, während dessen sich Phasen der Deeskalation und der Eskalation abgelöst hatten». Von einer unverhältnismässigen Gewaltanwendung könne keine Rede sein, so das Fazit Oberholzers. «Dass der Mann im Anschluss daran zur Besinnung kam und weinend auf dem Boden sitzen blieb, passt nicht nur in das Gesamtgeschehen, sondern stimmt auch mit der im Austrittsbericht geschilderten Ambivalenz überein.»Laut Auskunft der Staatsanwaltschaft laufen in diesem Verfahren noch polizeiliche Ermittlungen. Auch in diesem Fall brauche es in einem Folgeschritt die Ermächtigung des EJPD, um ein Strafverfahren zu eröffnen.

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