17.01.2020

«Unter der Hülle der Religion liegt die Religion»

Von Andrea Hofacker
aktualisiert am 03.11.2022
Mit dem heutigen Samstag beginnt die Woche für die Einheit der Christinnen und Christen. Sie wird seit den 60er-Jahren gemeinsam initiiert vom Ökumenischen Rat der Kirchen und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen. Viele Christinnen und Christen auf der ganzen Welt feiern ökumenische Gottesdienste.Es ist selbstverständlich geworden, dass bestimmte Anlässe im Jahr von beiden grossen Kirchen gemeinsam gefeiert und gewürdigt werden. Ich denke an Suppentage, Osternächte, Schulanfangsgottesdienste und Erntedanksonntage. Aber noch vor 60 oder 70 Jahren waren auch im Rheintal die Gräben zwischen Evangelischen und Katholischen tief und vermint. Man ging zum katholischen bzw. reformierten Beck, Metzger, Sportverein und oft genug auch noch in getrennte Primarschulen. Und wehe, man verliess die angetaufte Seite oder heiratete gar die andere Konfession!Heute ist das Ganze viel entspannter, und ich bin sehr froh darum. Das Christentum ist – wie alle anderen vier Weltreligionen auch – eine vielfältige und bunte Religion mit verschiedenen Konfessionen, die unterschiedliche Ausprägungen haben und leben. In Psalm 139 betet jemand: «Wie kostbar sind für mich deine Gedanken, o Gott, es sind unbegreiflich viele! Wollte ich sie zählen, so wären sie zahlreicher als alle Sandkörner dieser Welt» (NGÜ).Ich finde, dass die Vielfalt Gottes sich widerspiegeln muss in den verschiedenen Konfessionen des Christentums. Ich bin froh darum, dass es eine reformierte Tradition gibt, die ein besonderes Augenmerk auf das Wort hat. Ich bin aber mindestens genauso froh um meine katholischen Kolleginnen und Kollegen, die ein gutes Gefühl für die Liturgie und die Inszenierung des Heiligen haben, oder für die orthodoxen, die die Bilder und Symbole heiligen. Alle diese vielen Seiten Gottes könnte eine Konfession alleine doch gar nicht abbilden. Vielleicht können diese vielen Seiten Gottes nicht einmal eine Religion abbilden. Denn unsere Interpretation von Gott hängt ja auch immer davon ab, in welcher Tradition wir gross werden, und wie unsere Umwelt, die Natur und die sozialen Beziehungen um uns herum sich gestalten. Und das ist doch auf jedem Kontinent ganz anders.Ich teile die Erfahrungen anderer Religionen nicht, weil ich im Christentum aufgewachsen bin, so wie früher die Reformierten katholische Erfahrungen nicht geteilt haben, und umgekehrt. Ich kann zwar für mich sagen: Das Christentum ist meine Religion, sie ist für mich wahr und wichtig. Aber kann ich diese Wahrheit anderen Religionen absprechen, wo ich doch ihre Erfahrungen mit dem Leben, ihrer Kultur und ihrer Umwelt nicht teile?Friedrich Schiller hat geschrieben: «Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines Göttlichen.» Vielleicht hatte er recht.Andrea HofackerPfarrerin in Marbach

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