29.01.2021

Unter den Blättern

Ein Lieblingsgedicht möchte ich Ihnen ins Wochenende mitgeben. Es ist von Hilde Domin. Ich selbst durfte diese grosse, alte Dame noch live erleben, als ich etwa 14 Jahre alt war und sie in unserer Schule las.

Von Reinhard Paulzen
aktualisiert am 03.11.2022
Ihre Gedichte müssen sich nicht reimen. Die Grösse einer Dichterin zeigt sich darin, wie gut sie Erfahrung und Leben in ihren Worten «ver-dicht-en» kann:«Es knosptunter den Blättern –das nennen sie Herbst.»Klar haben wir jetzt Winter und nicht Herbst. Die Kinder geniessen die weisse Pracht beim Schlitteln. Aber, dieses wunderbare Herbstgedicht öffnet mir die Augen für eine neue Perspektive in diesem Coronawinter. Denn sind wir uns nicht alle gewohnt, dass wir im Herbst davon reden, wie die Blätter von den Bäumen fallen? Alles stirbt ab, sagen wir, die Natur stirbt ab! Alles geht in den Winterschlaf. Das ist noch die harmlose Deutung, die Natur legt sich schlafen.Aber die Dichterin schaute genauer hin. Tatsächlich hätten wir schon im Herbst sehen können: bereits fangen die winzigen Knospen neu an. Unter den Blättern. Wenn man darunter schaut, ist es unübersehbar. Es ist ein geniales Hoffnungsgedicht. Es zeigt mir, wie tief Hilde Domin, die als jüdisches Kind in Köln aufgewachsen und dann vor den Nazis geflüchtet war, in unserer gemeinsamen biblischen Hoffnungstradition verwurzelt ist. Sie war ganz sicher nicht naiv oder lebensfern. Ich muss staunen und bin dankbar dafür, wie sie sich ihren Hoffnungsblick bewahrte und nie nehmen liess.Gerade jetzt brauchen wir diese Blickweise auf alles das, was schon knospt. Unter den Blättern. Jetzt wo es so aussieht, als ob alles Gemeinschaftliche, das, was uns Freude bereitet, alles Feiern, noch immer mehr abfällt, fast abstirbt, wo quasi all das in den Winterschlaf gegangen ist: Da möchte ich diese Blickweise auf das Kommende von Hilde Domin haben. Auf das, was darunter schon ist und entsteht. Auch auf die Impfstoffe, die jetzt kommen.In der Bibel gibt es viele Hoffnungsworte. Die Paulusbriefe und die Psalmen sind wahre Fundgruben von Hoffnungsworten: «Seid fröhlich in der Hoffnung darauf, dass Gott seine Zusagen erfüllt» (Röm 12,12.). «Aber wer sein Recht nicht durchsetzen kann, den hat Gott nicht vergessen. Seine Hoffnung wird sich erfüllen, auch wenn es zunächst nicht so scheint» (Ps 9,19).Selbst wenn es uns erscheint, als würde die Coronazeit niemals besser, als hätte Gott uns vergessen – unsere Hoffnung wird sich durchsetzen. Bleiben Sie gesund! Und rücksichtsvoll. Und zuversichtlich.Reinhard Paulzen, Pastoralassistent in Heerbrugg

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