04.12.2020

Undenkbares doch wagen

Wie feiern wir Weihnachten, wenn Liebgewonnenes wegbricht. Die Pandemie fordert, sich von Ritualen zu lösen.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Die Adventszeit soll mit die schönste Zeit im Jahr sein. An Märkten, Konzerten, geselligen Nachmittagen und Krippenspielen stärken wir die Gemeinschaft. In der Familie, auf der Arbeit und in der Freizeit wenden wir uns vermehrt einander zu. Auch die Kirchen ziehen die Menschen stärker an, als in jeder anderen Jahreszeit. Sie suchen in Gottesdiensten Ruhe, Besinnung und Erbauung.Dieses Jahr droht der Halt, den Weihnachten bietet, wegzubrechen. Die Pandemie verbietet viele Rituale, zwingt je-den Einzelnen, neue Formen zu finden. An Ostern, das in den Lockdown fiel, war es nicht so schwer. Es war Frühling, die Natur im Aufbruch und die Sonne schien schier unerschöpflich. «An Weihnachten hängen mehr Menschen, auch viele junge und jene, die nicht gläubig sind», sagt Manuela Schäfer. Sie ist Pfarrerin in Berneck und Dekanin des Kirchenkreises Rheintal. «Wir müssen lernen, Weihnachten anders als gewohnt zu sehen», sagt sie. «Machen wir es allein an Ritualen fest und es fehlt der Kern, bleiben nur leere Hüllen. Nimmt man uns die Hülle weg, bleibt nichts mehr.» Nun entreisst das Coronavirus diese Hülle. «Wer aber den Kern sieht, dem ist egal, ob an Heiligabend Würstchen oder Gänsebraten aufgetischt werden.» Das Fehlen der Rituale hat dann nichts Bedrohliches mehr.Das tun, was trotz Corona noch möglich istDie Pfarrerin erklärt den Kern: «Jesus steht für Nächstenliebe. Er hat es ermöglicht, dass Menschen eine Beziehung zu Gott ohne Schranken und Grenzen führen können», sagt sie. Die Pfarrerin stellt das ins Zentrum, was in der Pandemie noch möglich ist. Es spielt keine Rolle, an welchem Ort das geschieht – ob im Gotteshaus, im Kreis der Familie, in Quarantäne oder ganz allein.Die Pfarreien und Kirchgemeinden in der Region haben vielerlei Aktionen geplant, mit denen sie den Sinn der Weihnacht vermitteln und den Menschen Halt geben möchten. Beispielhaft hierfür ist eine Aktion der Evangelischen Kirchgemeinde Berneck-Au-Heerbrugg. Sie sagte die Seniorenweihnacht ab. Statt ihrer packten Freiwillige und Angestellte 500 Chlaussäckli mit je einer Kerze, einem Teebeutel, etwas Süssem und einer Adventskarte. Zum 1. Advent beschenkten sie die Senioren in der Kirchgemeinde an deren Wohnungstür. «Viele von ihnen meldeten sich gerührt bei mir und bedankten sich für den Zuspruch», sagt Manuela Schäfer. «Wir sind mehr Senioren begegnet, als sich für eine Feier angemeldet hätten.»Die Kirchgemeinde nutzte die frei gewordene Kapazität und wagte etwas, was vorher nicht denkbar war. Mit Erfolg: Den Religionsschülern und Helfern bereitete es Freude, Zuwendung und ein paar Gegenstände für eine private Feier zu schenken. «Das ist ein Paradebeispiel dafür, dass in den Kirchgemeinden derzeit viel läuft.»«Wir fragten uns zu Beginn der zweiten Welle, was die Menschen wirklich brauchen», sagt Manuela Schäfer. Im Frühling gab es viel Nachbarschaftshilfe. Die Familien waren ausgelastet mit Homeschooling und Onlineangeboten. «Sie wollten sich nicht auch noch an grösseren Aktionen beteiligen.» Das ist jetzt anders. Die Schulen sind offen und das gesellschaftliche Leben ist noch zu einem kleinen Teil möglich.Weihnachten war noch nie perfektDen Heiligabend zu gestalten oder zu ertragen, fiel Menschen in schlimmen Situationen schon immer schwer. Dieses Jahr trifft es mehr als sonst. Es helfe, die paar Stunden nicht zu hoch zu hängen, sagt die Pfarrerin. «Maria war ein schwangeres Mädchen, das von der Politik auf die Reise geschickt wurde.» Gott habe es so ausgesucht. «Also muss auch unser Weihnachten nicht perfekt sein.» Ein gemeinsamer Spaziergang zur Kirche, in der das Friedenslicht aus Bethlehem brennt und mitgenommen werden kann, ermöglicht ein Zusammengehörigkeitsgefühl.«Manchmal muss man etwas radikal abschneiden, damit Neues wachsen kann», sagt die Pfarrerin. Jeder Einzelne solle den Schmerz über die Leere wahrnehmen und dann wieder etwas neu gestalten. «Das gibt es in jeder Krise.»In der zweiten Welle beobachtet die Dekanin, dass auch Seelsorger nicht unverletzlich sind. Mehrere waren an Covid erkrankt. «Wir haben den Reflex, zu den Menschen zu gehen.» Im Frühling durften sie nicht. Jetzt dürfen sie, müssen aber auf andere und sich selbst aufpassen. Ein aussergewöhnliches aber bezeichnendes Wochenende war das vom 1. Advent. An drei Tagen hatte Manuela Schäfer mit 150 Menschen Kontakt: in Gottesdiensten, an Beisetzungen und Sitzungen. Trotzdem ist sie froh, dass Präsenzgottesdienste gefeiert werden dürfen. «Es gibt viele Menschen, denen das trotz der Anspannung sehr wichtig ist.» Die Schutzkonzepte seien relativ sicher. «Die Kirche nimmt ihre Verantwortung wahr. Aber es braucht Menschen guten Willens.»

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