06.08.2019

Umstrittene Schönheit

Ein Text über «die schönsten» Altstädte löste einen Reflex aus: Gehörte nicht Altstätten auch auf die Liste?

Gert BrudererVom «Blick» waren vor einigen Wochen Ortschaften wie Intragna, Greyerz, Saint-Ursanne sowie das verhältnismässig nahe Bremgarten als Altstadt-Bijous auserkoren worden. Eine kurzerhand beschlossene Exkursion ins aargauische Städtli hat neidlose Anerkennung zur Folge. Die Bremgarten zuteil gewordene Ehre ist vollauf berechtigt, was gewiss auch auf die anderen genannten Orte zutrifft. Trotzdem: Hat Altstättens Altstadt nicht unbestreitbare Vorzüge, die auch diesen Ort als ein «Schweizer Juwel» erscheinen lassen?Dazu eine gewagte These: Ein Hauptmerkmal, das Altstätten von anderen historischen Zentren abhebt und zur Besonderheit macht, ist das Nebeneinander jahrhundertealter Gebäude und neuzeitlicher Architektur.Schönes ausserhalb der AltstadtDie zweite Spezialität sind die ungewöhnlich vielen sehenswerten Häuserzeilen und historischen Gebäude ausserhalb der Altstadt. Ob Spangelnweg, Ring- oder Kugelgasse, Erlenweg oder Trogenerstrasse, Klostermühle oder Balmerhaus: Auch ausserhalb der Altstadt kann das Schauen eine Freude sein. Und die «Gaiserbahn», deren Bahnhof unmittelbar am westlichen Ende der Altstadt eine rucklig-abenteuerliche Fahrt ins Appenzellerland ermöglicht, hat ebenso aufwertenden Charakter wie der fast an die Altstadt grenzende Marolanipark hinter der evangelischen Kirche, die Breite mit ihren Kastanienbäumen oder die schmalen Wege entlang des Stadtbachs.Altstätten hat keine Reuss wie Bremgarten, keine Holzbrücke und keinen Waldweg an einem Fluss, aber entlang des Stadtbachs befinden sich so unscheinbare wie reizvolle Örtchen, wo sich der Blick für das hübsche Detail schärfen lässt.Drittens gibt es sozusagen die Prunkstücke der dritten Reihe, die – je nach Standort – von der Altstadt oder von ihrer Peripherie teils zu erkennen sind: leicht abgelegene und doch zu Fuss in wenigen Minuten erreichbare Besonderheiten wie das Wächterhäuschen, die Forstkappelle, den Forst, seine rund 350-jährige Eiche, den Torkel.Neuzeitliches an den Enden der MarktgasseDie Altstadt selbst, mit der Marktgasse und ihren Arkaden, dem Engelplatz, dem Weberwinkel und dem Eragraba, dem vor der kräftigen Aufwertung stehenden Prestegg-Areal, den herausragenden Häusern wie der Reburg sowie den fünf Brunnen ist über fast alle Zweifel erhaben. Fast, weil erstens die Autos, anders als etwa im uneingeschränkt prächtigen Bremgarten, willkommen sind. Und fast, weil das ehemalige Vilan-Gebäude, das Haus zum Falken, mit seiner flachen, grünen Fassade vielen als Schandfleck gilt. Es ist jedoch der älteste Vermittler zwischen einst und heute, und was Altstätten in jüngster Zeit an beiden Enden der Marktgasse gebaut hat, ist nicht nur die Frucht zäher Auseinandersetzungen.Was beim Frauenhof und der Kapelle im Westen entstanden ist, die raffiniert mit der Stadtmauer korrespondierende Frauenhof-Residenz mit ihren Alterswohnungen, fügt sich auf ebenso einzigartige Weise ins Stadtbild ein wie im Osten das neue Rathaus mit dem schönen grossen neuen Rathausplatz sowie der benachbarten Freihof-Überbauung.Mit ihrer Kombination von Alt und Neu hat die Stadt einen zwar eigenwilligen Weg beschritten, der aber auch Spannung gebracht hat: Altstättens moderne Altstadt-Baukörper im Kontext mit historischer Substanz und neckische Details wie in der Marktgasse ein schmales Stück Metallfassade neben dem vorstehenden Frauenhof machen jedenfalls Eindruck - unabhängig davon, ob das Ergebnis einem gefällt.Tipp für Hiesige: Terrasse besuchenGemessen an der Einwohnerzahl hat Altstättens Altstadt zudem eine erstaunliche Grösse: Zusammen mit den schönen Strassen, Gassen und Wegen in unmittelbarer Nähe des eigentlichen Stadtkerns ist das mit historischer Substanz bestückte Stadtgebiet landesweit eines der grösseren, wenn nicht der grössten. Allein die Altstadt, die sich vom Untertor zur Breite und vom Rathaus zum Frauenhof erstreckt, hat (ohne Kirchenareal) eine Fläche von 3,7 Hektaren. Die Altstadtfläche pro Einwohner beträgt somit in Altstätten 3,36 Quadratmeter.Ein besonderes Erlebnis ermöglicht das bald vierjährige Altstätter Rathaus. Wahrscheinlich die wenigsten Altstätter (und Rheintaler) waren bereits auf der Rathausterrasse, um von hier den Blick schweifen zu lassen.Was dem Betrachter sich darbietet, ist von einer Schönheit, die Altstadtflair-Konkurrenz nicht zu fürchten braucht. Die Dachlandschaft sowie die einzigartige Umgebung mit Hügeln und Bergen taugt ebenso als Touristenattraktion wie zur Zerstreuung Einheimischer.Sollte jemand an den Autos in der Altstadt ebenso wenig Freude haben wie am neuen Rathaus, findet er auf diesem Trost: Alle Fahrzeuge sind beim Blick von der Rathaus-Terrasse in der Versenkung verschwunden und von einem Blick aufs Rathaus bleibt der Rathaus-Gast naturgemäss verschont.

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