09.12.2020

Über das Lebensende entscheiden

Wegen Corona steigt das Interesse an Patientenverfügungen. Für René Zünd kein Grund, übereilt zu handeln.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
«Ja, meine Frau und ich haben eine Patientenverfügung», sagt René Zünd, ehemaliger Marbacher Gemeindepräsident. Bereits 2015 hätten sie diese gemacht, dann lange schubladisiert und im Frühjahr 2016 unterschrieben. «Auslöser war ein ungeplanter Spitalaufenthalt meinerseits, der glücklicherweise glimpflicher ausfiel als ursprünglich erwartet werden konnte», sagt der 65-Jährige.Aufgrund einer Fernsehsendung zum Thema und eines Infoanlasses hätten sie sich damals dazu entschlossen, sie zu erstellen. Als im Frühjahr die Pandemie über Europa hereinbrach, sah sich das Ehepaar nicht dazu veranlasst, die Verfügung anzupassen oder zu aktualisieren. Ihre Dokumente enthielten bereits Antworten zu Reanimation und zur künstlichen Beatmung.Keine schwierigen Entscheide fällen«Ich fühle mich nicht besser, aber sicherer», sagt René Zünd, «und weiss, dass meine Angehörigen im Notfall nicht schwierige Entscheide für mich fällen müssen.» Grundsätzlich sei er der Meinung, dass möglichst alle eine Patientenverfügung haben sollten. «Was mir persönlich falsch erscheint, ist, dass ältere Leute angesichts der Pandemie übereilt eine Verfügung erstellen oder sich sogar gezwungen sehen, eine solche erstellen zu müssen», so der Pensionär. Das Verfassen einer solchen sollte gut überlegt sein, man sollte sich Zeit lassen.Nebst Gesprächen mit Angehörigen und Fachkräften bieten die Websites vom Berufsverband der Schweizer Ärzte (FMH) oder der schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Hilfestellungen. «Wichtig ist, nur eine Verfügung von einem seriösen Anbieter zu nehmen», so der alt Gemeindepräsident, «und sie sollte mindestens beim Lebens- oder Ehepartner hinterlegt werden. Sinnvollerweise aber auch bei den engsten Angehörigen und je nach Gesundheitszustand beim Hausarzt.»Weil in ihr die Art der medizinischen Behandlung und Betreuung bei schwerer Erkrankung oder Unfall festgehalten wird und unter anderem lebensverlängernde Massnahmen aufgelistet werden, empfiehlt sich, sie immer wieder auf seine Wünsche hin zu aktualisieren. Auch eine weltweite Gesundheitskrise, wie sie in diesem Jahr ausgebrochen ist, macht allenfalls eine Aktualisierung nötig.Enttabuisierung von Tod und SterblichkeitBeim Ausfüllen der Patientenverfügung müsse man sich etlichen Fragen rund um den Tod stellen, sich aber auch seinen Ängsten stellen in Bezug auf Schmerzen, Todeskämpfe oder den Verzicht auf eine mögliche Heilung, bei der die Lebensqualität eingeschränkt wird und so bleibt. «Etwas Positives hat die jetzige Krise: Man diskutiert viel mehr über Leben und Sterben, aber auch über Möglichkeiten und Grenzen der Medizin», sagt René Zünd, «und das trägt zu einer Enttabuisierung bei.» Leichte Zunahme bei PatientenverfügungenCoronabedingt ist es bei Pro Senectute auf einer der drei regionalen Stellen zu einer leichten Anfrageerhöhung für Patientenverfügungen (PV) gekommen. Exit verzeichnete von Anfang Januar bis Ende November 2020 im Vergleich zur gleichen Zeitspanne im Vorjahr insgesamt rund 300 Patientenverfügungen mehr. So hinterlegte der Verein in diesem Zeitraum etwa 9240 PV, 2019 waren es 8950 gewesen. Nachgefragt«Der eigene Wille ist ausschlaggebend»Die Covid-19-Pandemie veranlasste viele Menschen zu einem Nachdenken, wie sie sterben wollen – und wie nicht. Die Nachfrage nach Formularen für Patientenverfügungen steigt. Sozialarbeiterin Jacqueline Gavrani von der Pro Senectute Rheintal Werdenberg Sarganserland (Bild) erklärt, wer eine Patientenverfügung braucht und worauf besonders zu achten ist.Frau Gavrani, was ist das Ziel einer Patientenverfügung?Jacqueline Gavrani: Mit der Patientenverfügung hält jemand für Krankheitssituationen, in denen man nicht mehr direkt selber entscheiden kann, fest, welchen medizinischen Massnahmen die Person zustimmt und welche sie ablehnt. Wann ist sie sinnvoll?Eine Patientenverfügung ist in jeder Lebensphase für urteilsfähige Personen sinnvoll, die ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben wollen.Was muss sie zwingend enthalten?Zwingend enthalten muss die Verfügung nur das Datum und die handschriftliche Unterschrift der Person, die sie betrifft.Worauf ist beim Erstellen einer Patientenverfügung besonders zu achten?Sie soll möglichst klare Anweisungen bezüglich Art und Reichweite der pflegerischen sowie medizinischen Betreuung enthalten und bezieht sich meist auf nicht rückgängig zu machende Krankheitssituationen oder die terminale Phase des Lebens eines Menschen. Sie soll den persönlichen, freien Willen der ausstellenden Person ausdrücken. Ich empfehle, die erstellte Patientenverfügung alle zwei Jahre inhaltlich zu überprüfen, neu zu datieren und zu unterschreiben. Sie muss nicht jedes Mal neu erstellt werden, die erneuerte Unterschrift genügt.Wo sollte man eine Patientenverfügung erstellen?Ich empfehle eine professionelle Beratung durch eine entsprechende Organisation. Dies können etwa Pro Senectute, das Rote Kreuz oder krankheitsbezogene Beratungsstellen wie Krebsliga, Rheumaliga etc. sein. Ausserdem sind etliche Hausärzte bereit, mit ihren Patienten die Verfügung zu besprechen.Was raten Sie den Leuten, die wegen Corona eine Patientenverfügung erstellen wollen?Wichtig ist mir, den Beratenen zu vermitteln, dass ihr eigener Wille ausschlaggebend ist, wie dieser auch immer aussehen mag. Nicht der vermeintliche Wille der Gesellschaft, von Angehörigen oder Ärzten. Bei den Vorsorgedokumenten handelt es sich um ein Recht, das man wahrnimmt und nicht um eine Pflicht, die es zu erfüllen gilt. In der Verfügung soll klar ersichtlich sein, dass die Annahme oder Ablehnung beispielsweise einer künstlichen Beatmung durch Intubation auf eine Corona-Erkrankung bezogen ist.Führt Corona zu einer Enttabuisierung von Tod und Sterblichkeit?Die Auseinandersetzung mit dem Tod kann das eigene Leben intensivieren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Patientenverfügung löst im besten Fall einen wichtigen Prozess aus, um über das eigene Leben und was einem selbst wichtig ist, nachzudenken.Wenn Intensivbetten knapp werden und Ärzte triagieren müssen, führt das nicht zu einem Druck für Risikopatienten, auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten, und diese in der Patientenverfügung zu dokumentieren?In der aktuellen Situation muss alles Platz haben: der Schutz der Menschen, ein würdiges Leben bis zum Tod und der Respekt vor der persönlichen Einstellung zum Sterben. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Patientenverfügung erst in Kraft tritt, wenn eine Urteilsunfähigkeit vorliegt. Vorher müssen die Ärzte die Massnahmen direkt mit den Patienten abstimmen.

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