10.08.2021

Süss-saure Selbstdisziplin

In unserer Sommerserie "Der grösste Fan" verraten Redaktorinnen und Redaktoren, was sie begeistert. Im vierten Teil schreibt Seraina Hess über den Dorfkiosk.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Mehrere Fünf-, Zehn-, Zwanzig-, ja sogar zwei Fünfzigräppler klimpern auf dem Weg durchs Rheinecker Wohnquartier verheissungsvoll im Portemonnaie, das an einer Kordel um den Hals baumelt. Es ist einer jener letzten Tage in den Sommerferien, die sich zu unzähligen Stunden in der Badi und auf dem Minigolfplatz gesellen. Und der Tag versprach, ein besonderer zu werden, als mir meine Mutter nach dem Einkauf das Wechselgeld in die Hand drückte. Wohl wissend, dass es die Münzen nie und nimmer ins Kässeli im Kinderzimmer schaffen würden. Vielleicht war ihr das gleichgültig. Viel eher war die grosszügige Geste aber eine jener Erziehungsmassnahmen, die Eltern für sinnvoll erachten, sich Kindern aber noch nicht erschliessen. Damit lernt sie rechnen! – dachte sich mein Vater. Damit lernt sie haushalten! – folgerte meine Mutter. Damit darf ich mir so viel Schleckzeug kaufen, bis kein einziger Batzen mehr übrig ist! – freute ich mich. Letztlich trafen alle Überlegungen zu, meine vermutlich am meisten.Ich hatte noch nicht einmal zu einem Grüezi angesetzt, als mir Frau Schoch vom Kiosk an der Thalerstrasse das weisse, knisternde, aber noch leere Säckchen entgegenstreckte. Die Kioskfrau, wie wir sie nannten, kannte (und kennt) die Rheinecker Schülerschaft vermutlich besser als manch ein Lehrer. Zumindest wusste sie immer sofort, ob die Buben oder Mädchen Unterstützung brauchten oder ob es sich um einen regelrechten Chrömli-Profi handelte. Ich für meinen Teil verzichtete auf ihre Hilfe, wenn es darum ging, das Säckli möglichst ergiebig zu füllen. Denn in einer Zeit, in der die einzige Pflicht darin bestand, die Stifte im Etui vor dem Schulstart zu spitzen und regenbogenartig nach Farbe zu ordnen, war diese Herausforderung durchaus willkommen.Die wichtigste Frage vor der Auslage war immer die: Welche sollte meine grösste Investition, das Herzstück meines Schlecksäcklis sein? Letzten Endes gab es für mich nur zwei Optionen: Eine der grossen, teuren Gummischlangen (1.50 Franken) oder einen der Lollis (2 Franken), die sich in ein Briefchen mit Pulver tunken liessen, das im Anschluss auf der Zunge knisterte und diese erst noch blau oder grün färbte. In vier von fünf Fällen wanderte die Schlange ins Säckli. Denn fünfzig gesparte Rappen bedeuteten gleichzeitig zwei saure Apfelringe, zwei Pilzli, eine Gummi-Erdbeere und ein Cola-Fröschli mehr – gut investiertes Geld, meiner Meinung nach. Entscheidungsschwierigkeiten gab es erst bei den letzten drei Zwanzigräpplern im Portemonnaie. Doch Frau Schoch bot selbst einer Süssigkeiten-Aficionada Hand: Ein Caramel-Stängeli sollte es sein, für den Rest bekam ich ein paar Fünfermöcken, die dem Säckli etwas mehr Gewicht verliehen, entgegen ihres Namens aber mit zehn Rappen zu Buche schlugen. Diese Inkongruenz verblüffte mich schon damals.Das gut gefüllte, aber sorgfältig rationierte Säckli hielt übrigens mehrere Tage lang, das Caramel-Stängeli bekam ohnehin meine Mutter. Denn im Grunde ging es nicht darum, Süsses zu essen, bis mir der Bauch schmerzte – viel mehr war der autonome Ausflug an den Kiosk ein Stück Freiheit im behüteten Kinderleben.Das legt die Vermutung nahe, dass der Kiosk im Erwachsenenalter seinen Reiz verloren hat, einmal abgesehen von der Zeitschriftenauslage. Schliesslich könnte ich – den Gesundheitsaspekt vernachlässigend – den ganzen Plastikbehälter mit über hundert süss-sauren Pfirsichringli oder sogar mit den teuren Gummischlangen kaufen, ohne dass es ein Loch in meine Haushaltskasse reissen würde. Trotzdem hat der Kiosk nichts von seinem Zauber eingebüsst. Die Süssigkeitenauslage mit grünem, rotem, blauem Gummigetier ist ein Schlaraffenland, das immer einen Ausflug wert bleibt. Zum Glück sind auch heute ab und zu ein paar Zehn- und Zwanzigräppler im Portemonnaie übrig, die ihren Weg über die Theke finden. Nur bedarf es ohne elterliche Budget-Beschränkung manchmal etwas Selbstdisziplin, nicht doch die Bankkarte zu zücken und ein zweites Säckli zu füllen.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.