26.09.2022

Sprachprobleme bei Kindern beheben: «Wir helfen, die Balance zu finden»

Katja Meier ist Logopädin und leitet die LDM in Heerbrugg. Sie möchte Kinder schon in der Spielgruppe fördern.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 02.11.2022
Immer mehr Kinder tun sich beim Eintritt in den Kindergarten schwer, sich altersgerecht auszudrücken. Dies gilt ebenso für jene, die daheim Deutsch sprechen wie für die, deren  Muttersprache eine andere ist. Als Leiterin der Logopädischen Dienste Mittelrheintal (LDM) setzt Katja Meier auf Vorbeugung. In Zusammenarbeit mit der Primarschule Au-Heerbrugg hat sie ein Pilotprojekt mit Spielgruppen lanciert. Im Interview spricht sie über Ursachen der Sprachprobleme. Ausserdem gibt sie Tipps, wie man Kinder dazu anhalten kann, zu kommunizieren und anregen, Sprache zu entdecken.Katja Meier, jedes Kind hat ein anderes Tempo, in dem es Fertigkeiten entwickelt, welchen Wortschatz sollte ein zweijähriges haben? Katja Meier: Mit zwei Jahren sollte ein Kind mindestens fünfzig Wörter kennen. Auf einen Fünftel aller Kinder trifft das nicht zu. Bei der Hälfte von ihnen ist das unbedenklich. Die Buben und Mädchen holen das innert eines Jahres auf. Bei der anderen Hälfte, das sind 8 bis 10 Prozent aller Kinder, kann sich eine Spracherwerbsstörung ergeben, die ei­ner logopädischen Förderung bedarf. Die Tendenz nimmt zu.Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem steigenden Anteil fremdsprachiger Kinder in der Schule und dem erhöhten Bedarf an logopädischer Behandlung? Bereitet es einem Kind Mühe, sprechen zu lernen, liegt es nicht unbedingt daran, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Der Umstand kann als Erschwernis hinzukommen. Ein von einer Spracherwerbsstörung betroffenes Kind drückt sich generell nicht altersgerecht aus, auch nicht in seiner Muttersprache. Sehen Sie die Gefahr, ein Kind als krank abzustempeln, falls es vor dem Eintritt in den Kindergarten eine logopädische Therapie erhalten soll? Nein, es ist wichtig, ein Kind möglichst früh zu unterstützen. Nur so können wir Folgepro­bleme vermeiden. Oft bemerkt man seine Schwierigkeiten erst, wenn es im Kindergarten längere Zeit nicht spricht oder andere Kinder und Lehrpersonen nicht versteht. Klären wir ein Kind nicht erst dann, sondern bereits im Spielgruppenalter ab, kön­-nen wir Kind und Eltern unterstützen, bevor sich falsche Strategien und Gewohnheiten entwickeln, schulische oder soziale Probleme auftreten.Was haben Sprachprobleme mit Sozialverhalten zu tun? Zu kommunizieren bedeutet, sich gegenseitig zu verstehen. Begreift ein Kind nicht, was sein Gegenüber sagt, nimmt es nicht am Geschehen teil. Es folgt Lerninhalten nicht, teilt sich nicht mit und kann überfordert oder verhaltensauffällig reagieren. Stellen Sie sich vor, Sie besuchen einen Vortrag in Italienisch, ohne die Sprache zu beherrschen. Sie werden unruhig, langweilen sich und rutschen auf dem Stuhl herum. Möchten Sie hinterher den Inhalt wiedergeben, vermögen Sie es nicht. Sie haben ja fast nichts verstanden. So ergeht es Kindern, die dem Unterricht schon sprachlich nicht folgen können. Der Abstand zur Klasse wird grösser, es baut sich Druck auf. Ein Teufelskreis entsteht. Wie nehmen Sie Kindern und Eltern den Druck? Die Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Sie setzt aber auch die Grenzen meiner Welt. Eltern unterstützen ihr Kind am besten, indem sie ihm ein gutes Sprachvorbild sind, sich Zeit nehmen und mit ihm kommunizieren und handeln. Ein Kind lernt nur, sich auszudrücken, wenn es dazugehörige Erfahrungen macht. Habe ich weder Vorstellungsvermögen noch Wortschatz, kann ich keine Geschichte erzählen. Damit ich weiss, was eine Banane ist, reicht es nicht, sie auf einem Bild zu erkennen. Habe ich einmal eine Banane geschält, gerochen oder geschmeckt, kann ich mir etwas unter dem Begriff vorstellen. Sprache ist ein aktiver Prozess und geht mit Erfahrung einher.In der Primarschule Au-Heerbrugg starten Sie ein Pi­lotprojekt mit Spielgruppen. Wie stelle ich mir das vor? Es geht um eine logopädische Früherfassung. Im Oberrheintal haben mehrere Gemeinden gute Erfahrungen gesammelt. Wir starten nun mit drei Spielgruppen, besuchen sie und beobachten die Kinder. Hinterher beraten wir uns mit den Gruppenleiterinnen und entscheiden, ob Bedarf einer verstärkten Förderung oder einer Therapie besteht. Unser Ziel ist, Familien frühestmöglich zu erreichen und den Kindern falls nötig eine Unterstützung zu ermöglichen.Die Art der Früherkennung setzt ein Obligatorium für die Spielgruppe voraus? Ich spreche mich dafür aus, dass jedes Kind eine Spielgruppe besucht. Im Kindergarten merkt man, wer dort war und wer nicht. Ein Obligatorium einzuführen, ist aktuell nicht realistisch.Bildschirmmedien sind in der Gesellschaft omnipräsent. Wie wirken sie sich auf den Spracherwerb aus? Es gibt immer mehr Familien, die Kommunikation nicht mehr gezielt pflegen. Eltern beschäftigen sich mit dem Handy, statt sich mit ihrem Kind im Kinderwagen zu befassen. Kleinkindern wird ein Handy als Spielzeug überlassen. Ich kenne Vierjährige, die sich weder in ihrer Muttersprache noch in Deutsch ausdrücken können. Sie kennen nur englische Wörter aus Videos, verstehen sie aber nicht. Verbringt ein Kind eine halbe Stunde am Bildschirm, sollte es die Zeit aufwiegen, indem es zwei Stunden lang spielt und kommunikative Erfahrungen sammelt. Bei Bedarf helfen wir, die Balance zu finden.Wie kann man es besser machen? Kompetenz erwirbt man durch Erfahrung. Das gilt fürs Sprechen und im rechten Alter auch fürs Handy. Begleiten Eltern ihre Handlungen erzählend, stellen Kinder den Zusammenhang her. Ziehe ich ihm Schuhe an und kommentiere die Handgriffe, lernt es nebenbei, dass der Fuss in den Schuh schlüpft und ich den Schuhbändel binde. Schweige ich dabei, nehme ich dem Kind die Chance, die Begriffe mit eigenen Erfahrungen zu verbinden. Wie erkenne ich, ob mich ein Kind versteht? Sobald es Fragen stellt oder widerspricht. Kinder, die nicht verstehen, sagen oft nur «Ja» und fallen dadurch nicht auf.Hinweis Tipps und Hilfestellungen fin­den sich auf der Website: www.kinder-4.chLogopädische Dienste MittelrheintalKatja Meier lebt in Berneck und leitet die Logopädischen Dienste Mittelrheintal (LDM) seit Februar 2016. Ein halbes Jahr später wurde sie zusätzlich als Logopädin in der Primarschule Au-Heerbrugg tätig. Die LDM haben ihren Sitz in Heerbrugg, beschäftigen 17 Logopädinnen und gehören dem Dachverband der Heilpädagogischen Vereinigung Rheintal an. Vertragspartnerinnen sind die Schulen Rheineck, Au-Heerbrugg, Heilpädagogische Schule Heerbrugg, Berneck, Balgach, Oberstufe Mittelrheintal, Widnau und Diepoldsau. Die LDM klären Kinder ab zwei Jahren ab. Therapien erhalten Kinder und Jugendliche zwischen 2,5 Jahren bis zum Abschluss der Oberstufe. Die Therapie stotternder junger Erwachsener kann bis zum Alter von 20 Jahren fortgesetzt werden. (vdl)www.logopaediemittelrheintal.ch 

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