Yves SolenthalerSeit ein paar Wochen ist Nina Geissler frei. Befreit vom Prüfungsdruck und auch von der elterlichen Verpflichtung, vor der möglichen Tenniskarriere den Schulabschluss zu erlangen. Die Rheineckerin hat an der Sportschule Liechtenstein in vier Jahren die Matura erfolgreich abgeschlossen.Viele gleichaltrige Kolleginnen setzen schon länger voll auf die Tenniskarriere. «Ich kann mit denen trotzdem noch mithalten», sagt die zweimalige Schweizer Nachwuchsmeisterin. «Dass ich bisher den Fokus auf die Ausbildung gelegt habe, hat mir in meiner Entwicklung eher genützt als geschadet», sagt Nina Geissler. Dazu beigetragen hätten auch die guten Bedingungen an der Sportschule in Schaan.Die sanftere Annäherung ans ProfitennisAls 18-Jährige hat Nina Geissler nun die Möglichkeit, dem Tennissport Priorität einzuräumen. Sie verfolgt weiterhin ihr Ziel, es als Profispielerin in den Tenniszirkus zu schaffen. Das Ziel ist weit entfernt, der Konkurrenzkampf in dieser globalen Sportart riesig: Wer nicht zu den Top 100 – mit vielen Werbeeinnahmen allenfalls noch Top 200 – der Welt gehört, kann von diesem Beruf nicht leben.Nina Geissler, die vor ihrem prüfungsbedingten Rückzug im ersten Halbjahr in der Juniorinnen-Weltrangliste auf Position 130 stand, könnte sich bereits jetzt als Profi versuchen. Sie hätte die Möglichkeit, sich über kleinere Turniere im Ranking zu verbessern, bis sie es vielleicht auf WTA-Stufe schafft. Die Kosten, allgemein der Aufwand – hoch. Die Erfolgsaussichten – bescheiden.Die andere Möglichkeit – sich mit einem Stipendium übers College-Tennis in den USA kontinuierlich dem Profizirkus zu nähern – war für Nina Geissler näherliegend.Spielerinnen von Geisslers Güteklasse werden laufend von Scouts beobachtet. Anfragen von Colleges (Universitäten) sind in ihrem Alter selbstverständlich. Die besseren Adressen kamen erst mit der Zeit, schliesslich hat Nina Geissler mit ihren Eltern drei Universitäten in die engere Auswahl genommen. Im letzten Februar besuchte sie mit ihrer Mutter Caroline Geissler die Unis.Die Wahl fiel auf die Louisiana State University in Baton Rouge. Auch Yves Allegro, Cheftrainer von Swiss Tennis, hat der Rheineckerin zu diesem Schritt geraten, er kennt den Coach des College-Teams aus dem Südosten der USA.Das Studium dauert vier Jahre. «Aber es geht mir ums Tennis: Wenn ich die Chance erhalte, als Profi zu spielen, werde ich diese nutzen», sagt Geissler. Andererseits habe sie auch eine Option, wenn sich die Tenniskarriere nicht wie gewünscht entwickelt. «Und wenn es mir gar nicht gefällt in Louisiana, was unwahrscheinlich ist, kann ich nach einem Jahr zurückkehren», sagt Nina Geissler.Am 13. August reist Nina Geissler in die Hauptstadt des US-Bundesstaats Louisiana. Dort wird sie mit dem College-Frauenteam gegen andere Universitäten der Vereinigten Staaten spielen, zum Teil übers ganze Land verteilt. In der zweiten Saisonhälfte stehen Einzelturniere auf dem Programm.In der Schweiz wird meist auf Sand (Outdoor) oder Teppich (Indoor) gespielt. In den USA gibt’s den Hartplatz. Geissler findet, der schnelle Belag komme ihrem Spiel entgegen: Sie kann gut servieren und mag es nicht, die Punkte lange auszuspielen.College mit einem 100 000-StadionDie Zeit vor dem Aufbruch ist für Nina Geissler von Vorfreude geprägt, aber auch Aufregung. Sie verabschiedet sich von ihren Eltern, ihrem Bruder, ihren Kolleginnen: «Die vertrauten Menschen werde ich vermissen. Andererseits bin ich ja nicht für 20 Jahre weg.»Was sie in Louisiana genau erwartet, kann die 18-jährige Tennisspielerin erst erahnen. Die neuen Teamkolleginnen – US-Amerikanerinnen und Engländerinnen – hat sie bereits beim ersten Besuch in Baton Rouge kennengelernt. Mit den zwei anderen neuen Spielerinnen des Teams bildet Geissler auf dem Uni-Campus eine Art Wohngemeinschaft.Das Areal ist riesig, Athleten aus fast allen Sportarten werden in Baton Rouge ausgebildet. Das Tiger Stadium, in dem das Football-College-Team der Louisiana State University spielt, hat eine Kapazität von 102 321 Sitzplätzen. Es ist damit das siebtgrösste Stadion der Welt, grösser als das Camp Nou in Barcelona (Platz 11) oder das Wembley-Stadion in London (Platz 17). Im Vergleich dazu sind die Stadien, die Nina Geissler anziehen, ziemlich klein: Das weltgrösste Tennisstadion, Arthur Ashe in New York, fasst gerade mal 22 500 Personen. Zweittext:Tennisprofis legen oft draufSchon oft gehört: «Ich schicke mein Kind ins Tennis, dann muss ich später nicht mehr arbeiten.» Wer die Preisgelder von Roger Federer und inzwischen auch Belinda Bencic sieht, kann auf diesen Gedanken kommen. Der Spruch verkennt, dass der Weg an die Spitze steinig ist – und wer ausserhalb der Top 100 spielt, legt für seinen Beruf eher drauf, als dass er reich wird.Zudem wird im Einzelsport Tennis viel Eigeninitiative verlangt. Während im Fussball oder Eishockey vieles von Trainern organisiert wird, ist das bei Tennis-Teenagern die Aufgabe der Eltern. Nina Geissler ist als Sechsjährige ihrem zwei Jahre älteren Bruder Fabio ins Tennis gefolgt. Sie spielten sich im Garten Bälle zu, Nina wurde gut genug, um sich mit den Besten ihres Alters zu messen. «Wenn ich gewusst hätte, dass Nina eine Spitzensport-Karriere einschlägt, hätte ich ihr nicht Tennis nähergebracht», sagt Caroline Geissler, ihre Mutter. (ys)