22.12.2019

Spätes Glück für einen Verdingbuben

Vom eigenen Boot träumt Emil Balmer, seit er als Bub zum Arbeiten gezwungen wurde. Wie ihm Bund, Beistand und Bevölkerung helfen.

Von Linda Müntener
aktualisiert am 03.11.2022
Es gibt Geschichten über die Kesb, die hört man immer wieder. Sie handeln von fremdplatzierten Kindern, von Konflikten, von einer rücksichtslosen Behörde, die machen kann, was sie will. Und es gibt Geschichten über die Kesb, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Sie bleiben in den Aktenschränken. Weil sie kein Aufsehen erregen, weil sie sich nicht für politische Propaganda eignen. Es lohnt sich, auch sie zu erzählen. Weil sie eine andere Seite der Behördenarbeit zeigen. Wie die Geschichte von Emil Balmer.Es ist bitterkalt, als Emil Balmer an diesem Novembermorgen seinen roten Traktor auf den Rorschacher Hafenplatz steuert. Auf dem Anhänger seine «Maryann», mit Gurten befestigt und einer Blache zugedeckt. Das Tuckern durchbricht die Stille. Die Promenade ist menschenleer, die Saison längst vorbei. Emil Balmer, 75 Jahre alt, grauer Bart, steigt vom Traktor. An der Hafenmauer wartet Walter Bentivoglio, sein Beistand. «Bist du nervös?» Balmer lächelt, dreht sich um und löst die Gurte. Jetzt gilt es ernst. Fünf Monate lang hat er jeden Tag an seinem Boot gewerkelt. Heute wird es eingewassert. Lange war er der Einzige, der daran glaubte.Mit sechs Jahren zum Arbeiten gezwungenErnst Emil Balmer kommt 1944 in Köniz bei Bern zur Welt. Er ist zwei Jahre alt, als sich seine Mutter das Leben nimmt. Der Vater kümmert sich nicht. Der Bub kommt in ein Heim in Ostermundigen, erfährt Schläge und Erniedrigungen. Die Grossmutter reagiert, Emil Balmer wird in einer Pflegefamilie platziert, dann in der Anstalt Landdorf. Dort wird er als Arbeitskraft für eine Gärtnerei missbraucht. Der sechsjährige Emil zieht Rechen hinter sich her, setzt Bohnen, pflanzt Salat, schleppt Eisenstangen. Die Arbeit beginnt um 6 Uhr, vor 20 Uhr kommt er selten zur Ruhe. Der Heimleiter meint, «es ist gesund, zu arbeiten».Der Bub will etwas lernen. Am liebsten Dachdecker oder Matrose. Sein Vormund gibt ihm zu verstehen, dass «Landdörfler» zum Arbeiten und nicht zum Lernen vorgesehen seien. Mit 18 Jahren hat Emil Balmer erstmals das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein. Er findet eine Stelle auf dem Bau, verdient 3.50 Franken pro Stunde. Heimlich spielt er auf seiner Handorgel. Das gibt ihm Kraft. Als er seinen Vormund fragt, ob er Unterricht nehmen dürfte, winkt dieser ab. «Du kannst das nicht.» Emil Balmer sagt heute: «Ich fühlte mich wie in einer Presse. Wollte ich aufstehen, drückten sie mich wieder runter.»Die Jahre ziehen ins Land. Balmers Vormünder und Jobs wechseln, schliesslich geht er zur See. Er arbeitet auf dem Hochseefrachter Maloja, einem Schweizer Handelsschiff. Der Umgang auf hoher See ist rau, es fliesst viel Alkohol, die Arbeit zehrt an den Kräften. Aber Emil Balmer fühlt sich frei. Nach zwei Jahren kehrt er zurück in die Schweiz. Die Vormundschaft wird aufgehoben. Jetzt ist er «frei». Bis er 1997 in eine Lebenskrise stürzt.Zurück im Rorschacher Hafen. Startklar. Der Schiffskran hebt das Boot an, langsam bewegt es sich zum Hafenbeckenrand. Balmer klettert die Ausstiegsleiter hinunter. Zwei Freunde und die Wirtin seiner Stammbeiz sind gekommen: «Er spricht seit Wochen nur von seinem Schiff, das musste ich einfach sehen.»Ein Bundesbeschluss gibt ihm ein neues ZielIn den 1990er-Jahren zieht Emil Balmer in die Ostschweiz, nach Buechen, Thal. Er ist jetzt über 50 und findet einfach keine Arbeit mehr. Er fühlt sich nicht gebraucht, einsam und sucht Trost im Alkohol. Im Jahr 2000 wird wieder eine Vormundschaft errichtet. Es kommt zu Differenzen zwischen Balmer und seiner von der Gemeinde eingesetzten privaten Beiständin. Sie sind so schlimm, dass er kaum noch Lebensfreude verspürt.Dann tritt Walter Bentivoglio in Emil Balmers Leben. Er übernimmt seinen Fall in einer Zeit, in der der Kindes- und Erwachsenenschutz ein Politikum ist. Balmer wird mittlerweile von einem Rechtsberater vertreten, der sich auf Kesb-Fälle spezialisiert hat. Am runden Tisch arbeiten alle Beteiligten die Zwischenfälle auf. Man würde es verstehen, wäre Emil Balmer verbittert. Er, der niemals die Chance hatte, Vertrauen in öffentliche Institutionen aufzubauen. Doch er will vorwärtsschauen. Er versteht sich gut mit Walter Bentivoglio, sehr gut. «Ich fühle mich wohl», sagt er am Sitzungstisch, die kräftigen Hände zusammengefaltet, ein weicher Ausdruck im Gesicht. Balmer hat sich vom Alkohol abgewendet, er hat ein Ziel vor Augen. 2016 nehmen National- und Ständerat den Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungs-Initiative an. Gemäss Gesetz haben Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Anspruch auf 25000 Franken. Ein «Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts», so formuliert es der Bundesrat. Eine finanzielle Wiedergutmachung, für etwas, das man nicht wiedergutmachen kann.Emil Balmers Antrag wird bewilligt. Er weiss, was er mit dem Geld machen will: ein Boot bauen. Sein Beistand ist zunächst skeptisch. Das ändert sich, als Balmer ihm ein detailliertes, selbst gebautes Modell präsentiert. «Ich war beeindruckt», sagt Bentivoglio.Solidarität mit Balmer – das halbe Städtchen hilft mitWalter Bentivoglio ist seit Errichtung des Kindes- und Erwachsensenschutzes als Berufsbeistand tätig. Zuvor hat er im Sozialversicherungswesen und als Amtsvormund gearbeitet. Der Sizilianer, der einst einen Boxclub führte, ist ein zugänglicher Mensch. Er gibt einem das Gefühl, man würde sich schon ewig kennen. In einem Interview hat sich Bentivoglio einmal als Dirigent bezeichnet: «Ich muss den Fall führen, er darf nicht mich führen.» Im Fall Balmer dirigiert er ein ganzes Orchester.Bei einem Grillfest seines Boxclubs in Rorschach fällt ihm auf dem Nachbargrundstück ein Schuppen mit Unterstand auf – der ideale Werkplatz. Er gehört dem Kaninchenzüchterverein. Bentivoglio ruft den Präsidenten an und handelt einen Freundschaftspreis für die Miete aus. Er schaut sich mit Balmer nach Material um, organisiert einen Schiffsmotor, bewilligt 400 Kilo Holz. Im August steht Balmer zum ersten Mal an der Werkbank. Fortan vergeht kein Tag, an dem der 75-Jährige nicht mit seinem Traktor von Buechen nach Rorschach fährt. Bei jedem Wetter. Der Beistand bittet einen Experten vom Schifffahrtsamt um einen Augenschein. «Maryann» nimmt Gestalt an.Als das Werk fertig ist, willigt Thals Gemeindepräsident Robert Raths ein, es im Werkhof zwischenzulagern. Bentivoglio und sein Schwiegervater helfen beim Transport. Der Rorschacher Bootsfahrschulinhaber Roman Frommenwiler organisiert einen Hafenplatz. Der Hafenmeister gibt grünes Licht, «Maryann» kommt neben die Luxusyachten in die erste Reihe. Urs Grob vom Bootsverleih steuert bei der Einwässerung den Kran. Es scheint, als hätte Bentivoglio das halbe Städtchen zusammengetrommelt. Es scheint, als hätten sie sich alle zusammengeschlossen, um die Verantwortung jener Gesellschaft zu übernehmen, die dies in Emil Balmers Kindheit versäumt hat. Solidarität mit jemandem, der in seinem Leben mehr Ablehnung als Zuneigung erfahren hat. Ein spätes Glück.Nur noch wenige Zentimeter. Walter Bentivoglio umklammert seine Aktentasche, der Boxer mit den breiten Schultern ist angespannt. «Super, Emil!», rufen die Freunde. Dann berührt «Maryann» das Wasser. Balmer startet den Motor und setzt sich hinters Steuerrad. Walter Bentivoglio atmet auf – «es schwimmt!»Ein Lebenstraum geht an diesem Morgen in Erfüllung. Die Seefahrt ist Emil Balmers Leidenschaft. Wenn er von seinen Modellschiffen erzählt, blüht er auf. Er will nach Lübeck fahren und die «Passat» , eine Viermast-Stahlbark, besichtigen. Er will fischen. Er plant einen Ausflug zum Walensee. Er fühlt sich frei.

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