Nachruf vor 2 Stunden

So prägten die Jahre im Heidler Kinderheim die Sexualtherapeutin Ruth K. Westheimer

Sie überlebte den Holocaust und wurde in den USA mit ihren Sexratgebern weltbekannt: Ruth K. Westheimer hat ein bewegtes Leben hinter sich. Als junges Mädchen lebte sie mehrere Jahre in Heiden. Erinnerungen an eine ungewöhnliche Frau.

Von Jesko Calderara
aktualisiert vor 2 Stunden

Am vergangenen Freitag ist die deutsch-amerikanische Sexualtherapeutin, Autorin und Soziologin Ruth K. Westheimer im Alter von 96 Jahren in New York gestorben. Mit über vierzig Ratgebern zum Thema Sex und mit Auftritten in Late-Night-Talkshows erlangte die nur gerade 1,44 Meter grosse, quirlige Frau als «Dr. Ruth» weltweit Berühmtheit. Sie ermutigte ihr Millionenpublikum dazu, offen über ein vermeintliches Tabuthema zu sprechen.

Was weniger bekannt ist: Westheimer hat einen Bezug zum Appenzellerland. Während des Zweiten Weltkriegs wohnte sie als junges Mädchen im jüdischen Kinderheim Wartheim in Heiden. Es war eine prägende Zeit für die 1928 als Karola Ruth Siegel in Wiesenfeld in der Nähe von Frankfurt geborene Jüdin. Die Jahre im Vorderland retteten ihr das Leben, denn die Nationalsozialisten verschleppten vor den Augen der weinenden Tochter ihren Vater. Sie ermordeten ihn und die Mutter später im Konzentrationslager Auschwitz.

Kinderheim Wartheim bestand bis 1988

Die 10-jährige Karola kam dagegen auf Drängen ihrer Mutter und Grossmutter im Februar 1938, kurz vor Kriegsausbruch, alleine mit einem Kindertransport in die Schweiz. «Andere Kinder kamen nach Holland oder Belgien. Wäre ich auf eine dieser Listen gekommen, hätte ich wohl nicht überlebt», sagte Westheimer einst gegenüber einer US-Fachzeitschrift der Filmindustrie.

Das ehemalige jüdische Kinderheim Wartheim in Heiden wird heute als Wohnhaus genutzt.
Das ehemalige jüdische Kinderheim Wartheim in Heiden wird heute als Wohnhaus genutzt.
Bild: Jesko Calderara

Zu ihrem Zuhause wurde das 1927 gegründete «Wartheim» in Heiden. Es gehörte der Augustin-Keller Loge, die Führung übernahm der Israelitische Frauenverein Zürich. Zeitweise lebten dort bis zu 90 jüdische Pflegekinder. Das Kinderheim bestand bis 1988, heute wird die Liegenschaft als Wohnhaus genutzt.

Westheimer kehrte nach Heiden zurück

Nach Kriegsende wanderte die damals 17-Jährige Karola Siegel nach Palästina aus und machte ihren zweiten Vornamen zum ersten. Sie schloss sich als Scharfschützin der zionistischen Untergrundorganisation Hagana an, studierte später in Paris Psychologie und in den USA Soziologie. Der Schweiz blieb Ruth K. Westheimer jedoch verbunden. Immer wieder äusserte sie dem Land gegenüber, das sie einst als Kind aufnahm, ihre Dankbarkeit. Das tat Westheimer unter anderem in einem Interview 2018 mit dieser Zeitung zu ihrem 90. Geburtstag.

Regelmässig besuchte sie Freunde in Zürich – und ab und zu auch Heiden. So beispielsweise in den 1970er-Jahren, als der Journalist und Autor Alfred A. Häsler, bekannt für «Das Boot ist voll», ihre Lebensgeschichte in einem Buch niederschrieb. Der damalige «Wartheim»-Leiter, der namentlich nicht genannt werden will, erinnert sich noch gut an die Begegnung. Er habe Ruth K. Westheimer als lebensbejahende Frau erlebt, was angesichts ihrer Familiengeschichte alles andere als selbstverständlich gewesen sei.

Vor ungefähr 18 Jahren besuchte «Dr. Ruth» nochmals das Appenzellerland. Verena Loring, die heute im «Wartheim» wohnt, führte sie und ihren Begleiter durchs Haus. Loring beschreibt Westheimer als «fröhliche» und «positive» Person.

Haushälterin statt Kindergärtnerin

Die Sexualtherapeutin beschäftigte sich in ihrer soziologischen Masterarbeit damit, was aus den Heidler Heimkindern wurde. Mit einigen von ihnen stand sie jahrelang in Kontakt. In der Zeit im «Wartheim» war jedoch nicht alles eitel Sonnenschein, was auch im Dokumentarfilm «Ask Dr. Ruth», der 2019 in die Kinos kam, thematisiert wurde.

So mussten die deutschen Kinder ihren Aufenthalt mit strengen Arbeiten abverdienen und die Schweizer Ferienkinder bedienen. Zudem wurden sie gemäss Westheimer von den Dorfkindern hinter ihren Vorhängen etwas misstrauisch beäugt. Auch der Ausdruck «cheibe Usländer» war ihr geläufig, wie sie im erwähnten Interview zum 90. Geburtstag erklärte.

Am meisten zu schaffen machte der jungen Karola Siegel während des Heimaufenthalts im Vorderland aber die Tatsache, dass ihr der Berufswunsch Kindergärtnerin verwehrt blieb. Die Sekundarschule durfte sie nicht besuchen, sondern musste stattdessen ein Haushälterinnendiplom in Herisau machen. Erst später in Palästina liess sich Westheimer zur Kindergärtnerin ausbilden. In Heiden konnte sie aber immerhin bei den Pfadfindern mitmachen und sogar eine Bubengruppe leiten.

Die Sachbuchautorin bezeichnete sich als «Holocaust-Waise». In ihr wuchs mit den Jahren der Wunsch, das eigene Überleben mit einer sinnvollen Tätigkeit zu rechtfertigen. Oder wie sie vor einigen Jahren in einer US-Fernsehshow sagte: «Ich habe die Verpflichtung, aus dem Vollen zu leben und in der Welt etwas zu bewirken.»

 


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