Nennen wir sie Jussy, wie sie auf dem Fussballplatz von allen gerufen wird. Eigentlich heisst sie Justyna Trzaskowski. Sie gehört mit ihren 1,65 m nicht zu den Grossen. Die Nummer sechs ist im Mittelfeld aber immer anspielbar, weil sie sich dauernd bewegt. Leichtfüssig bietet sie sich an, vorn, hinten, auf der Seite. Kein Weg ist ihr zu weit. Dabei wird sie im nächsten Monat 40. Tempo? Ausdauer? Sie hält problemlos mit. Es scheint keine Frage des Alters zu sein.
Gern geht sie mit in den Angriff, sie bereitet per Flanke eine Chance vor oder schliesst grad selbst ab wie in der Nachspielzeit, als ihr Schuss von ausserhalb des Strafraums wenig am Tor vorbeifliegt. «Ein verdienter Sieg», sagt sie danach, aber so ganz zufrieden ist sie nicht.
Wir spielen neu im 4-4-2, da klappt noch nicht alles.
Jussy ist 1983 im polnischen Lodz geboren. Vier Jahre später zieht die Familie nach Schwäbisch Hall im Raum Stuttgart. Zur Familie gehören ein jüngerer Bruder und eine jüngere Schwester. Der Vater, gelernter Zimmermann, später Lastwagenchauffeur, hat in Polen in der höchsten Liga Fussball gespielt. In Deutschland ist das Mädchen aus Polen immer auf dem Bolzplatz – mit lauter Knaben.
Vom Bolzplatz zum Spitzenfussball
Sie ist neun Jahre alt, als sie beim TSV Ilshofen zum ersten Mal zu einem Team gehört. «Ich habe auf allen Positionen gespielt, auch im Tor, später am liebsten als Stürmerin.» Nach der Schulzeit beginnt sie in Konstanz ein Chemiestudium und schliesst sich dem Hegauer FV an. Dieser trägt gelegentlich Trainingsspiele gegen die Frauen des FC Staad aus. Das Studium schliesst Jussy erfolgreich ab.
Als Dr. chem. Justyna Trzaskowski findet sie eine Stelle bei der Ems Chemie im Bündnerland, wo sie zweieinhalb Jahre lang arbeitet – und erinnert sich an den FC Staad.
Sie meldet sich beim Verein am Bodensee und wird gern aufgenommen. Arbeiten in Ems, wohnen in Mels, Fussballspielen in Staad – die junge Frau ist ordentlich unterwegs. Sie gehört zu Staads ersten Mannschaft, damals der führende Verein für Frauen in der Ostschweiz. Fünf Jahre lang ist sie im Spitzenfussball daheim. Wie viele Spiele sie gemacht hat, weiss sie nicht. Das weiss ein anderer, der damals schon ein grosser Förderer der Frauen war und heute noch im FC Staad als Leiter der Frauen mit Leib und Seele dabei ist. Luc Haltner sagt: «Jussy war bei 105 NLA-Spielen dabei und vier Tore geschossen.»
Ein Aufstieg mit Hegau als Höhepunkt der Laufbahn
Haltner kennt die Fussballerin genau.
Eine disziplinierte Spielerin, sehr ehrgeizig. Sie gibt nie auf, kämpft bis zur letzten Sekunde. Wenn nach den Ferien die neue Saison begann, kam sie jeweils topfit zum ersten Training.
2017 wechselt Jussy ins «Zwei», zwei Jahre später hört sie auf. Ende Fussball.
Ein halbes Jahr später spielt sie aber doch wieder, und zwar beim SV Lindau, eine Freundin überredet sie. Kein Training, nur Spiele. Und in diesem halben Jahr passiert es: Nach einem Wortgefecht mit dem Schiedsrichter wird sie, das einzige Mal in ihrem Leben, vom Platz geschickt. Unwichtiger Tiefpunkt in einem an Höhepunkten reichen Fussballerinnenleben. Und der Höhepunkt? «Der Aufstieg mit dem FV Hegau in die Regionalliga, die dritthöchste Liga.»
Ganzheitliche Therapie, die ohne Chemie auskommt
Im Jahr 2013 erleidet Jussy eine Leistenverletzung. In der Therapie bei Othmar Reize in Goldach erfährt die Chemikerin, dass man Verletzungen auch ohne Chemie heilen kann. Sie ist vom alternativen Weg überzeugt, sie lernt verschiedene Therapien kennen und ist heute in der Ausbildung zur Naturheilpraktikerin. Der Therapeut wird zum Lebenspartner. Gemeinsam führen Jussy und Othmar heute das Gesundheitszentrum Goldach, eine Praxis für alternative und ganzheitliche Therapie. Sie wohnen in Diepoldsau.
Auf der Firmenwebsite erklärt Jussy ihre beruflichen Ansichten mit dem Standard-Satzbeginn «Ich bin der Überzeugung, dass …». Wie heissen ihre Fussball-Grundsätze? «Ich bin der Überzeugung, dass der Fussball meine lebenslange Leidenschaft ist», sagt sie, und ergänzt:
Ich bin der Überzeugung, dass Teamwork die Grundlage für den Erfolg ist.
Zurück zum Match. Auch Othmar Reize schaut zu. Das Gespräch über seine Partnerin wird zur Bestätigung dessen, was der Autor vorher gesehen und gehört hat: «Energisch. Ehrgeizig. Intelligent.»