Monika von der LindenSie heisst «Wundertüte» und sie ist es auch. Im Küpferlers Huus, einem unscheinbaren Holzhaus an der Hauptstrasse in St. Margrethen, ist seit einigen Jahren die Spielgruppe untergebracht. Behutsam betritt die Reporterin das Haus in Gemeindebesitz, horcht, um den Weg zur Verabredung, zur Spielgruppe zu finden. Im Obergeschoss macht sie Kinderstimmen aus und steigt die Treppe empor. Mit jeder Stufe wird der Blick ins Traumland deutlicher. Ein Raum strahlt Gastfreundschaft ausVon Kinderhand gezeichnete Bilder und Bastelarbeiten hängen an den Wänden. Überall stehen Regale mit Büchern und Kisten voller Spielsachen. Sie laden ein, zuzugreifen und zu spielen. In einer Ecke des Raums stehen Stühle im Kreis. Ein idealer Ort, um Lieder zu singen oder auf das zu lauschen, was andere Kinder oder die Gruppenleiterin zu sagen haben. In einer anderen Ecke liegt auf dem Fussboden ein Teppich. Auf ihm abgebildet sind Häuser, Strassen und Verkehrsschilder. Auf ihm sitzen einige Kinder. Sie sind ganz ruhig, denken an nichts anderes als an ihr Spiel. Ein Kind blickt hoch und sagt: «Hoi.»Im Nebenraum wird Erika Dilettoso auf den Gast aufmerksam. Sie öffnet das trennende Treppengitter, lächelt und bittet die Besucherin herein. Ein angenehmes Gefühl des Willkommenseins breitet sich aus. So ergeht es sicher auch den Drei- bis Vierjährigen, die einmal pro Woche zwei Stunden lang hier sind. Ohne Mama.Die Spielgruppe ist oft die erste Gelegenheit, sich ein paar Stunden lang von der Bezugsperson zu lösen. «Wir leisten hier Vorarbeit», sagt Erika Dilettoso, «für einen stressfreien Übergang in den Kindergarten.»Aus Initiative wurde in dreissig Jahren ein VereinErika Dilettoso weiss, wovon sie spricht. Vor dreissig Jahren wurde sie Spielgruppenleiterin der «Wundertüte». Damals, 1988, hütete die ausgebildete Kleinkinder-Erzieherin bei der Jungmütterrunde Kleinkinder im Hort. «Das war der Anstoss zur Gründung der Spielgruppe.» Zunächst war Erika Dilettoso alleine, betreute acht Kinder. Damals noch im Vikariat. Mit der Zeit wuchs die Nachfrage. Aus anfänglich einer Gruppe wurden sechs Gruppen, plus eine Waldspielgruppe. Mit Claudia Trösch und Patrica Ackermann vergrösserte sich auch das Leiterinnenteam. Seit vergangenem Sommer ist die «Wundertüte» ein Verein und wird von Claudia Trösch präsidiert.Es ist für Erika Dilettoso beruhigend zu wissen, dass es im gleichen Stil weitergeht. «Dann habe ich nichts falsch gemacht.» Am Ende dieses Spielgruppenjahres entlässt sie nämlich nicht nur die Kinder in den Kindergarten, sie selbst verabschiedet sich als Leiterin. Claudia Trösch wird auf sie folgen.«Solange ich noch Kinder habe, geht es gut», sagt sie. Sie meint jene in der Krippe und ihre Enkel. Als sie von ihren Grosskindern erzählt, denkt sie an ihren Sohn, eines ihrer ersten Gruppenkinder. Sie erinnert sich an Kinder, die heute als Vater oder Mutter die «Wundertüte» schätzen.Eltern sind es dann auch, die den Namen der Spielgruppe mit Sinn füllen, oder besser gesagt, die am Elternabend selbst gebastelte Wundertüte mit einer Überraschung und Süssem mitbringen. Eine feine Gabe am vierten Geburtstag des Nachwuchses.«Das schönste Erlebnis ist, wenn ein Kind sagt: Ich habe es geschafft.» Tritt dies ein, bestätigt sich, dass Erika Dilettosos Rezept die richtigen Zutaten enthält. «Ich bin ein Fan der Montessori-Pädagogik: Hilf mir, es selbst zu tun.» Die erfahrene Kleinkinder-Erzieherin gibt jedem Kind die Zeit, die es benötigt, damit es sich etwas zutraut. Ein Mädchen stellt sich vor die Leiterin, blickt sie an, wartet, bis sie es zum Sprechen auffordert. Erst dann sagt es: «Ich brauche ein Pflästerli.» Erika Dilettoso reicht dem Kind eine Schachtel: «Du darfst dir eines aussuchen.» Das Mädchen wählt und klebt das Pflaster selbst auf ihr Knie. Es ist längst nicht mehr so, dass alle Spielgruppenkinder respektvoll und höflich sind. Das bringt ihnen im Elternhaus oft niemand mehr bei. «Die Spielgruppe ist für die meisten Kinder der erste Schritt aus der Familie», sagt Erika Dilettoso. Die Buben und Mädchen lernen bei ihr, alleine aufs WC zu gehen, sich anzuziehen, sich die Hände zu waschen, beim Essen zu sitzen, um etwas zu bitten und sich zu bedanken. Zu Hause dürfen manche Kinder oft alles. In der Spielgruppe lernen sie streiten, sich versöhnen und Kompromisse finden. «Im Kindergarten merkt man, welches Kind die Spielgruppe besucht hat und welches nicht.»Fünfzigmal muss ein Kind ein Wort hören Jedes Jahr, wenn sich das Spielgruppenjahr dem Ende zuneigt, verändern sich die Kinder. Sie testen neue Grenzen aus. «Das ist gut. Sie haben einen Entwicklungsschritt getan.»Ebenso wie es unsichere Kinder gibt, gibt es auch jene, die anscheinend keine Grenzen kennen. Immer wieder muss die Spielgruppenleiterin Regeln wiederholen, Wörter erneut erklären. «Eine Woche Pause ist lange, wenn zu Hause nichts eingeübt wird.» Das mache sie kopfmüde, obwohl sie wisse, dass ein Kind ein Wort fünfzigmal hören muss, bevor es das Gehirn speichert. Und bei Kindern, die daheim nie Deutsch sprechen, ist es noch anstrengender. Weil Kinder am besten voneinander lernen, mischen die Leiterinnen der «Wundertüte» die Gruppen soweit als möglich mit Kindern verschiedener Nationen.Schlüge sie den gewählten Weg trotz aller Veränderung in der Erziehung nochmals ein?«Auf jeden Fall. Sonst wäre ich nicht so lange dran geblieben», zieht Erika Dilettoso Bilanz zum Ende ihrer «Wundertüten»-Laufbahn.Es ist kurz vor elf Uhr. Die Kinder setzten sich mit Erika Dilottoso in den Stuhlkreis, ziehen sich an, singen ihr Abschiedslied und winken dabei. Bevor sie der Reihe nach die Treppe hinuntergehen, verabschieden sie sich per Handschlag.Die nächsten zwei Stunden in der «Wundertüte» sind am nächsten Dienstag. Und bald sind alle darauf vorbereitet, in den Kindergarten zu gehen. Aus Anlass ihres 30-jährigen Bestehens lädt die Spielgruppe Wundertüte am Samstag, 26. Mai, von 11 bis 16 Uhr zum Tag der offenen Tür. Es gibt Kuchen und Kaffee, man kann die Räume anschauen, spielen oder in der Bastelecke werkeln.