14.02.2022

Sie rettete zum dritten Mal ein Leben

Mit ihrem beherzten Eingreifen rettete Jeanine Streule letzten November Claudia Meiers Leben. Es war bereits die dritte Unfallstelle, an der die Walzenhauser Kindergärtnerin eine erfolgreiche Reanimation durchführte.

Von Interview: Benjamin Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
 Innerhalb von Sekunden kann das Leben enden. Umso wichtiger ist es, dass es Menschen gibt, die wissen, was in solchen Situationen zu tun ist. Menschen wie die 27-jährige Jeanine Streule. Sie rettete vergangenen November das Leben der Kriessnerin Claudia Meier (Ausgabe vom 7. Februar), deren Kreislauf aufgrund von Herzkammerflimmern während der Autofahrt in Altstätten zusammenbrach. Im Interview erzählt Streule, was ihr durch den Kopf ging, als sie die Unfallstelle sah, wie sie sich als Lebensretterin fühlt, wie der Vorfall ihr Leben veränderte und was es ihr bedeutet, mit der geretteten Person demnächst in Kontakt zu treten.Jeanine Streule, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie am Unfallort eintrafen?Jeanine Streule: Den Anfahrtsweg zu meinem Arbeitsplatz in Altstätten habe ich an diesem Morgen aus einem Gefühl heraus gewählt. Normalerweise nehme ich die direktere Route. Die Unfallstelle sah ich schnell, wurde aber von Personen, die schon da waren, vorbeigewinkt. Ich fuhr weiter, um nicht als Gafferin zu gelten. Als ich einen Blick zur Seite warf, sah ich die Verunfallte im Auto sitzend zwischen den Airbags. Der Unfall sah nicht schlimm aus, aber ich merkte sofort, dass die Frau bewusstlos war und unter Sauerstoffmangel litt.Weshalb kehrten Sie um?Nach 200 Metern hatte ich den Geistesblitz, wenden zu müssen, da die Personen vor Ort die Verunfallte noch nicht aus dem Auto geholt hatten. Als Schwimmlehrerin bin ich verpflichtet, al-le zwei Jahre den Kurs für lebensrettende Basismassnahmen (BLS) zu wiederholen, weshalb ich wusste, was zu tun ist. Ich drehte um und fragte, ob ich helfen könne. Die Männer waren froh, dass jemand die Verantwortung übernahm.Was haben Sie als Erstes getan?Ich fragte, ob die Rettung schon alarmiert worden war. Danach versuchte ich, mir einen Überblick zu verschaffen. Ich sprach die Verunfallte an und zog sie aus dem Auto. Dann bat ich die Anwesenden, ihre Fahrzeuge so zu parkieren, dass wir nicht von anderen Verkehrsteilnehmenden überfahren werden konnten. Eine Person sollte den Verkehr regeln und ein Mann sollte auf meinen Hand- und Armschmuck aufpassen, den ich schon ausgezogen hatte. Ich checkte die Atmung der Frau, befreite sie mit einem Sackmesser, das mir ein Handwerker gab, von der dicken Kleidung und begann mit der Reanimation.Was raten Sie Personen in ähnlichen Situationen?Wichtig ist, sich zuerst einen Überblick zu verschaffen, da man sonst gefährliche Details und den Selbstschutz übersehen könnte. Ruhig bleiben und kommunizieren ist ebenfalls nötig, sowohl mit dem Opfer als auch mit den Helferinnen und Helfern, vor allem, wenn man – so wie ich – eher spät an der Unfallstelle ankommt. Die wichtigste Frage ist: Wurde die Rettung alarmiert und kommt sie? Dann lieber sofort als zu zögerlich mit der Reanimation beginnen. Ein Mensch, der «nur» bewusstlos ist, würde sich gegen die Herzdruckmassage wehren. In diesem Fall bewegte sich das Unfallopfer, abgesehen von einer Schnappatmung, nicht mehr.Haben Sie weitere Tipps?Aus Erfahrung weiss ich, dass die Rettung wie in Zeitlupe vergeht. Ich kann mich an alles erinnern. Das Gehirn ist auf Alarmstufe, weshalb man relativ emotionslos, schnell und mit allen Sinnen handeln kann. Wichtig ist, ein Sackmesser im Auto zu deponieren, es war mir an jeder Unfallstelle eine Hilfe. Ebenfalls empfehle ich Personen, die sich unsicher fühlen und zweifeln, ob sie helfen können, einen Auffrischungskurs.Wie fühlt es sich an, Lebensretterin zu sein?Nach dem Unfall und dem Adrenalinkick kamen zuerst die zurückgesteckten Emotionen hoch. Ich fühlte mich nicht wie eine Lebensretterin, sondern wie eine Versagerin, da ich dachte, dass die Frau nicht überlebt hat. Der Zusammenhalt an einer Unfallstelle ist gross und so nahm mich ein unbekannter Mann in den Arm. Er wirkte ebenso mitgenommen wie ich. Später gab mir die Schulleitung frei und ich nahm die Betreuung des Care-Teams der Polizei in Anspruch. Das war eine weise Entscheidung und ist in einer solchen Situation nur zu empfehlen. Das Lebensretter-Gefühl kam erst, als ich erfuhr, dass die Frau reanimiert werden konnte und mich der Mann des Unfallopfers einen Tag später angerufen hat.Wem haben Sie davon erzählt und wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert?Mein Austauschbedürfnis war gross. Zuerst nahm sich mein Schulleiter Zeit, um mit mir zu sprechen. Dann meldete ich mich bei der Polizei, um die Care-Betreuung in Anspruch zu nehmen, da ich nicht aufhören konnte, zu weinen und extreme Schocksymptome wie Kopfschmerzen und Übelkeit bis zum Erbrechen hatte. Danach informierte ich meine Eltern, meine Schwestern und meinen Partner, die sich kurzerhand den Nachmittag freischaufelten und mich zu Hause besuchten. Alle lobten mich und bestätigten, dass ich richtig gehandelt hatte. Das tat gut, aber noch besser war, dass man mir zuhörte.Haben Sie ein Dankeschön von offizieller Seite erhalten?Ja, einen guten Monat später bekam ich einen Anruf der Polizei und wurde gefragt, ob ich zu Hause sei. Zwei Polizisten überreichten mir einen grossen Biber. Viel mehr berührt hat mich aber eine Mail eines Helfers der Unfallstelle. Er bedankte sich, lobte mich und drückte seine Bewunderung aus. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.Hat der Vorfall Ihr Leben verändert?Ja, ich glaube nicht mehr an Zufälle. Mir ist bewusst geworden, wie schnell das Leben vorbei sein kann und dass es für viele Menschen wichtig ist, möglichst lang zu leben, ohne sich zu fragen, ob sie ein selbstbestimmtes Leben führen oder von äusseren Einflüssen geleitet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod, die in solchen Situationen unweigerlich stattfindet, hat bei mir tiefe Spuren hinterlassen und mich angeregt, einiges zu hinterfragen.Inwiefern?Ich bin nicht mehr bereit, mein Leben bestimmen zu lassen und nur zu funktionieren. Ich möchte zufrieden leben, egal ob ich den nächsten Tag erlebe oder nicht. Ich möchte täglich glücklich und dankbar für mein Leben sein, damit ich stets bereit bin, es zu verlassen.War es für Sie wichtig, zu wissen, dass die Frau überlebt hat?Das Care-Team der Polizei hat mich informiert, dass die Frau reanimiert werden konnte, aber man abwarten müsse. Am Tag darauf habe ich erfahren, dass eine Arbeitskollegin mit dem Opfer befreundet ist und sie dem Mann des Opfers mitgeteilt hatte, wer ich war. Dass er mich noch am selben Tag anrief, berührte mich sehr. Ich bin ihm dankbar dafür, weil es für mich wichtig war, zu wissen, wie es ausgegangen ist, um die Erfahrung zu verarbeiten. Weil bei den beiden früheren Reanimationen die Opfer noch auf der Unfallstelle stabilisiert werden konnten, war das damals nie ein Thema.Was bedeutet es Ihnen, die gerettete Person zu treffen?Sehr viel. Ich bin dankbar und glücklich, aber auch aufgeregt, die Frau persönlich zu treffen. Es wird für uns bestimmt emotional. So etwas verbindet, auch wenn man sich nicht kennt. Schliesslich war sie in ihrem wahrscheinlich hilflosesten Moment in meinen Armen und musste mir vertrauen. Das Erlebnis wird uns ein Leben lang verbinden.

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