12.04.2022

Sie nimmt die Welt anders wahr: Die Geschichte eines Mädchens mit Autismus-Spektrums-Störung

Casey führt ein Leben zwischen Faszination und Unverständnis. Auf akustische und visuelle Reize reagiert sie empfindlich, Strukturen geben ihr Sicherheit. Die Zehnjährige nimmt kein Blatt vor den Mund und sagt, was sie denkt.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
Casey ist ein Mädchen wie jedes andere auch. Sie backt oft, verbringt viel Zeit mit ihren Tieren und bastelt sehr gern. Aber die Zehnjährige nimmt die Welt um sich herum anders wahr, als neurotypische Menschen es tun. «Sie sieht Kleinigkeiten, die uns nicht auffallen», sagt ihre Mutter Claudia Brodbeck. Weil sie Geräusche kaum filtern kann, sind sie wie ein Sturm aus Tönen und der Besuch im Einkaufszentrum wird für Casey zur Herausforderung. Ebenso kann die Schule schwierig sein, vor allem dann, wenn es im Klassenzimmer sehr lebhaft ist und die vielen Reize Casey überfordern. «Manchmal wäre es schön, mit den Klassenkameradinnen und -kameraden spielen zu können, ohne gleich überreizt zu sein», sagt Casey.Kein Bedürfnis nach sozialem MiteinanderCasey liebt Tiere. Es gibt keine Tiere, vor denen sie sich fürchtet oder gar ekelt. «Für sie sind alle Tiere schön und faszinierend», sagt Claudia Brodbeck. Wenn sie sich für etwas interessiere, dann eigne sie sich ein grosses Wissen darüber an und verblüfft auch mal ihre Mutter mit ihrer Sachkenntnis, beispielsweise über Schnecken, Tschernobyl oder Magnetschwebebahnen.Die Viertklässlerin ist kreativ, hat viele grossartige Ideen und überrascht ihre Mutter immer wieder mit gebastelten oder gemalten Sachen. Mit ihrem eigenen Humor, den Claudia Brodbeck liebt, bringe sie Abwechslung in den Familienalltag. Backen gehört zu Caseys Leidenschaften und es entstehen wöchentlich neue Kreationen, die vom Bruder oder der Mutter verköstigt werden dürfen.Geduld sei nicht ihre Stärke. Es falle ihr schwer, nach dem Mittagessen sitzen bleiben zu müssen und zu warten, bis alle fertig sind. «Für Casey ist dieses soziale Miteinander kein Bedürfnis und somit auch unlogisch», sagt die 38-jährige Mutter. Für ihre Tochter ergebe es keinen Sinn, nach Einnahme der Mahlzeiten noch länger am Tisch zu bleiben. Dass sie alles sehr wörtlich nimmt, führe manchmal zu Missverständnissen. Auch versteht sie die Welt der neurotypischen Menschen nicht immer, weshalb die Mutter ihr beratend zur Seite stehen und vermitteln muss, wenn beispielsweise etwas in der Schule vorgefallen ist, das Casey nicht erklären kann. Teils habe Casey Mühe, Gefühle zu verstehen, Mimik und Gestik richtig zu deuten und Small Talk zu führen. Gerade, weil sie schlagfertig und stets ehrlich ist, ecke sie manchmal an, beispielsweise dann, wenn sie einer Person unverblümt kundtut, dass ihr die neue Frisur nicht gefällt.Gleichbleibende Tagesstruktur ist wichtig«Für uns ist eine möglichst gleichbleibende Tagesstruktur enorm wichtig», sagt Claudia Brodbeck, «je weniger Abweichungen, desto sicherer ist meine Tochter.» Das Gefühl der Sicherheit werde verstärkt, wenn man klare und präzise «Ansagen» macht, damit nichts Unvorhergesehenes passiert.Soll sie zum Beispiel etwas aufräumen, geht ihre Mutter mit ihr Gegenstand um Gegenstand durch, bis alles an seinem Platz ist. «Je mehr Abläufe jeden Tag gleich bleiben, umso mehr kann sie auch mal spontan sein», sagt Claudia Brodbeck. Spontan zu sein, bedeute im Alltag: Casey weiss, wohin es geht, wie lange es dauert, bis wir da sind, wie der Weg verläuft, womit wir gehen und auf wen wir treffen. Je mehr Informationen sie erhalte, desto leichter falle es ihr, ihre Komfortzone zu verlassen. Umgekehrt können sie zu viele Informationen auch verängstigen, sodass eine Blockade entsteht und sie das Haus nicht verlassen möchte, weswegen Verabredungen auch mal kurzfristig abgesagt werden müssen. Ausflüge oder Ferien seien kaum planbar und können in letzter Minute scheitern.Schule verweigert und Ängste entwickelt«Auffälligkeiten gab es schon früher», sagt Claudia Brodbeck, «im Nachhinein fällt mir einiges ein, was aber im frühen Kindesalter jeweils ihrem Charakter oder ihrer Schüchternheit zugeschrieben wurde.» Schon im Krabbelalter hatte sie Wutausbrüche, wenn etwas nicht so gelang, wie sie es sich vorstellte. Später durfte sie die Mutter nicht anfassen, wenn sie hingefallen war. Fremden gegenüber war sie schüchtern und spielte im Kindergarten lieber allein oder mit einzelnen Kindern als in der Gruppe.«Nachdem meine Tochter die Schule immer häufiger verweigerte und immer mehr Ängste entwickelte, suchten wir uns eine Psychologin», berichtet die Diepoldsauerin. Nach ein paar Sitzungen kam Corona und als sie wieder hätte starten dürfen, ging nichts mehr. Casey hatte Panik vor dem Autofahren. Das Dorf zu verlassen war unmöglich, die Wohnung zu verlassen eine Herausforderung. Ein Besuch bei der Psychologin war unmöglich. Dann wurde beschlossen, Casey zu einem stationären Aufenthalt in eine Kinderklinik zu schicken. Bereits nach dem ersten Therapiegespräch stand Autismus im Raum, dies wurde schliesslich nach dem dreimonatigen Aufenthalt als Diagnose bestätigt. «Die Diagnose war ein Segen», sagt die Mutter, «wir konnten uns vieles erklären und uns mit ASS auseinandersetzen.» Viele Fachbücher und Gespräche mit ebenfalls betroffenen Eltern hätten ihr die Augen geöffnet und ihr Einblicke in die Welt ihrer Tochter ermöglicht.Zu wenig Angebote für BetroffeneAktuell geht Casey einmal pro Woche in die Reittherapie. Neu darf sie nun, nach längerer Wartefrist, auch in die Ergotherapie. Im Allgemeinen gibt es viel zu wenig Angebote, vor allem in schulischer Hinsicht. Claudia Brodbeck und ihre Tochter würden sich auch mehr Austausch mit Gleichgesinnten in der Region wünschen. Die Mutter ist aber froh, nicht allein mit ihren Sorgen zu sein. Besonders ihre Eltern, die psychosoziale Beraterin Beatrice Gnaegi, die Autismushilfe Ostschweiz und der Entlastungsdienst Rheintal sind ihr eine Stütze. Ebenfalls bemüht sich der 12-jährige Jesse, seine Schwester zu unterstützen, obschon er wegen ihrer Diagnose oft zurückstecken muss.Claudia Brodbeck wünscht sich einerseits Schulen, die sich auf neurodiverse Kinder spezialisieren und andererseits Aufklärung, damit Menschen mit ASS nicht missverstanden werden und Eltern sich nicht erklären und rechtfertigen müssen.«Ich bin mir sicher, dass Casey ihren Weg gehen wird», sagt Claudia Brodbeck, «und wünsche mir für sie dasselbe wie für meinen Sohn, nämlich, dass all ihre Wünsche für die Zukunft in Erfüllung gehen.»Nachgefragt:«ASS ist keine Krankheit, eher ein anderes ‹Betriebssystem›»Beatrice Gnaegi ist Mutter von fünf Kindern, wovon bei dreien ASS diagnostiziert wurde. Die psychosoziale Beraterin begleitet und betreut Familien mit ADHS/ASS-Kindern. Im Interview erzählt sie, was ASS ist, wer davon betroffen ist, welchen Einfluss ASS auf die Betroffenen und deren Familien hat und welche Behandlung sinnvoll ist.[caption_left: Beatrice Gnaegi, psychosoziale Beraterin. (Bild: pd)]Was ist eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS)? Welche Symptome zeigen sich?Beatrice Gnaegi: Das ist eine angeborene, tiefgreifende Entwicklungsstörung und äussert sich mit folgenden Symptomen: Schwierigkeiten mit Veränderungen und stereotypes Verhalten. Soziale Interaktionen sind vermindert (Gefühle verstehen, Mimik richtig deuten, Small Talk wird als überflüssig empfunden). Menschen mit ASS haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, aber Mühe mit der Handlungsplanung, weshalb Routinen bevorzugt werden und Strukturen Sicherheit geben. Betroffene sind sehr sensibel, dies äussert sich oft in Kombination mit Ängsten, Verweigerungen und Depressionen (dies sind Komorbiditäten: also Folgeerkrankungen). Eine teilweise zu hohe Anpassung (Masking) an die Gesellschaft erfordert viel Energie und führt zu Zusammenbrüchen.Wer ist von ASS betroffen? Momentan geht man davon aus, dass zirka ein Prozent der Bevölkerung eine ASS hat. Die Aufteilung zwischen Buben und Mädchen wird mit 4:1 angegeben. Heute weiss man jedoch, dass sich Mädchen meistens besser tarnen können, durch das eher männliche Abklärungsverfahren fallen und aus diesen Gründen unerkannt bleiben. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Mädchen weitaus häufiger betroffen sind als angenommen, sodass das Verhältnis eher auf 4:3 zutreffen sollte.Welchen Einfluss hat ASS auf den Alltag der Betroffenen und deren Familien?Die Auswirkungen sind leider massiv. Auf den Betroffenen und deren Familien lastet ein grosser Druck. Da der Autismus unsichtbar ist, werden von den Neurodiversen (Autisten) oft Dinge verlangt, die sie gar nicht leisten oder umsetzen können. Es beginnt damit, dass der Tag streng strukturiert sein soll und sich doch oft Kleinigkeiten spontan ändern – dies führt zu einem Meltdown (Ausraster, ähnlich einem Wutanfall) und endet in der kompletten Erschöpfung (Shutdown). Alltägliche, für neurotypische Menschen selbstverständliche Dinge überfordern und verunsichern. Klare Abläufe, direkte Aussagen und rationale Erklärungen können helfen und reduzieren Missverständnisse. Aber für viele Diagnostizierte bleiben soziale Interaktionen ein Buch mit sieben Siegeln. Obwohl kognitiv fit, werden viele Schüler in einer Sonderschule untergebracht. Ich erlebe immer wieder, dass Kinder im Schulsystem zum «Wanderpokal» werden und nicht selten zwischendurch in Tageskliniken oder psychiatrischen Kliniken landen oder wegen der Schulverweigerung den Eltern die Kesb auf den Hals gehetzt wird. Eine Odyssee, die sich stetig wiederholt, weil es meiner Meinung nach zu wenig Kleinschulen gibt mit speziell autistisch ausgelegter Beschulung.Gibt es Heilung von ASS?Heilung gibt es nicht. ASS ist keine Krankheit, viel eher ein anderes «Betriebssystem» – weder besser noch schlechter, einfach abweichend von der Mehrheit. Mit verschiedenen Anpassungen und Förderung mit Ergotherapie, Neurofeedback, Sozialkompetenztraining und später auch Verhaltenstherapie können gute Erfolge erzielt werden. Erfolg bedeutet allerdings nicht die Anpassung an die Gesellschaft! Wichtig ist, dass sich Neurodiverse wohlfühlen und sich Skills aneignen, um sich in unserer hektischen Gesellschaft zurechtzufinden, ohne dabei krank zu werden. 

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