Remo Zollinger«Es gibt Mädchen aus den USA, die die 100 Meter Hürden in diesem Jahr in unter 13 Sekunden gelaufen sind», sagt Larissa Bertényi. Es ist spürbar: Sie hat Respekt vor der Konkurrenz, die ihr in Tampere den Wettkampf schwer machen wird. Sie hat sich noch nie an einem solchen Anlass mit Läuferinnen aus Sprinternationen aus Afrika oder Amerika gemessen.Die Vorfreude lässt sich die 18-jährige Widnauerin dadurch nicht vermiesen. Im Gegenteil: Sie ist «gwundrig», gespannt. Die U20-WM ist der grösste Anlass ihrer bisherigen Karriere. Larissa Bertényi sagt, sich mit den Besten messen zu können, bringe einen weiter. Und führe vielleicht zu einem Exploit. Den wird sie brauchen, will sie sich für den Halbfinal oder sogar den Final qualifizieren. «Ich rechne mit einer Zeit um 13,60 für den Halbfinaleinzug, etwa 13,30 wird es brauchen, um sich für den Final zu qualifizieren», sagt ihr Trainer Markus Schaffner.Larissa Bertényis persönlicher Bestwert liegt bei 13,76 Sekunden, 2017 in Mannheim gelaufen. Der Trainer sagt, das sei «noch nicht das Ende der Fahnenstange». Sie habe noch mehr Potenzial. Um eine Runde weiterzukommen, muss Larissa Bertényi in Finnland wohl einen neuen persönlichen Bestwert aufstellen. «Ich hoffe, einen sauberen Lauf zeigen zu können, vielleicht eine neue persönliche Bestzeit aufzustellen.» Und fügt dann forsch an: «Es wäre ein Wahnsinn, den Halbfinal zu erreichen.»Dank einer Kollegin die Limite früh erreichtDie Qualifikation für die WM war ein kleines Drama. Beim Pfingstmeeting in Zofingen war Larissa Bertényi allen davongelaufen, doch die Zeitmessung hatte versagt. Einen zweiten Lauf konnte sie nur machen, weil ihre Brühler Klubkollegin Michelle Nyffenegger spontan auf den Start verzichtete. Die U23-Athletin hat in diesem Jahr keinen Grossanlass, musste keine Limite erreichen. Larissa Bertényi musste das. Und tat das. Mit 14,08 Sekunden blieb sie knapp unter der Selektionslimite von 14,10. Larissa Bertényi sagt, sie habe sich mit Tränen in den Augen bei Michelle Nyffenegger für ihre Geste bedankt.Es war nicht die letzte Möglichkeit, die WM-Limite zu erreichen. Es ist aber besser, das früh abzuhaken, das erlaubt, die Saison lockerer in Angriff zu nehmen. Ohne Druck gelang es ihr in Mannheim, die Zeit aus Zofingen zu unterbieten (13,87). Die Widnauerin ist zufrieden, wie es läuft. Sie sei motiviert, habe viel Freude und keine Verletzungen.«Ich geniesse das Leben, das ich leben kann», sagt sie.Larissa Bertényi ist an der United School of Sports in St. Gallen, die Ausbildung besteht aus Schule, Praktika und Sport. Zurzeit ist die Widnauerin noch im ersten Praktikumsjahr, sie arbeitet in einer Versicherungsagentur in Herisau. Diese erlaubt ihr, die Arbeitszeiten den Trainingszeiten anzupassen.Alles begann in einem Widnauer WohnquartierDer Weg zur Spitzensportlerin war für Larissa Bertényi nicht direkt vorgezeichnet. Sie hat die Sportoberstufe an der OMR nicht besucht, obwohl ihr Vater Tom dort lehrt und ihre Mutter Kathrin früher auch Hürdenläuferin war. Der Sport ist nicht spät in Larissa Bertényis Leben gekommen, aber vergleichsweise spät zu dessen Mittelpunkt geworden.Wäre sie Fussballerin, wäre der Ausdruck Strassenfussballerin vielleicht zutreffend. So werden Spieler bezeichnet, die sich ihr Können auf der Strasse aneignen und es weit bringen.Larissa Bertényis Karriere beginnt auf der Strasse, in einem Wohnquartier in Widnau. Sie habe jede freie Minute draussen verbracht, sei immer am Rennen gewesen. «Und ich war gut. Ich wurde im Schulturnen meistens als erste gewählt», sagt sie. Sie ist in der Jugi Widnau, wechselt dann zum STV Balgach, wo Leichtathletik eine grössere Rolle spielt. Weil es bei den Kids Cups mit dem Ballwurf nie so richtig klappt, fokussiert sie sich auf die läuferischen Disziplinen. Der spätere Erfolg stützt diese Entscheidung. Als Projektarbeit in der dritten Sek wählt sie die Qualifikation für einen Final an Schweizer Meisterschaften. Es gelingt: Larissa Bertényi holt im Sprint sogar eine Medaille.Die Ambitionen wachsen, sie beginnt einmal in der Woche in St. Gallen mit Markus Schaffner zu trainieren und kommt an die United School of Sports. 2016 holt Larissa Bertényi in der Halle ihren ersten Schweizer Meistertitel über 60 Meter Hürden. Sie darf an der U18-EM in Tiflis starten und scheidet im Halbfinal als Siebte aus. Es folgt der zweite Rang bei den Schweizer Meisterschaften auf der Bahn. Die Erfolge machen sie im Januar 2017 zur Rheintaler Sportlerin des Jahres.Auf den ersten Meistertitel folgt 2017 der zweite, 2018 der dritte. Alle holt sie in der Halle. «Dabei bin ich lieber draussen», sagt Larissa Bertényi. Nur hat es dort bisher nicht geklappt, auch wegen einer Verletzung, die sie auch die Teilnahme an der letzten U20-EM in Italien kostete.Konzentration, Lockerheit und ein extremer FokusMittlerweile startet Larissa Bertényi für den LC Brühl, der führende Verein in der Ostschweizer Leichtathletik. Der Trainer hat Freude an ihr: «Sie ist immer aufgestellt, mit ihrer Lockerheit ein richtiger Farbtupfer. Das kann manchmal ein wenig auf Kosten der Konzentration gehen – doch es gelingt ihr immer, sich im Rennen extrem gut zu fokussieren», sagt Markus Schaffner.Er begleitet Larissa Bertényi und Yasmin Giger, die Amriswilerin wurde 2017 U20-Europameisterin über 400 Meter Hürden, nach Tampere. Der Trainer ist beim grössten Auftritt der beiden dabei – es ist auch für ihn eine Bestätigung, auf dem Weg vieles richtig gemacht zu haben.