17.12.2021

Sie legen Nadel und Faden beiseite

Heute schliesst mit dem Restenstübli Braun eines der letzten Rheinecker Traditionsgeschäfte. Ein Abschiedsbesuch.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 02.11.2022
Noch immer ist «Restenstübli Braun» in Grossbuchstaben über dem Schaufenster zu lesen, obschon ein E, ein T und ein R längst abgefallen sind. Angebracht wurden die Lettern vor rund 60 Jahren, als Emmi Braun ihr Mercerie- und Stoffgeschäft an der Bahnhofstrasse 24 frisch eröffnet hatte. An diesem Freitagnach­mittag offenbart sich ein Bild hinter der schweren Eingangstür, wie es bereits zu Beginn der 1960er-Jahre ausgesehen haben dürfte: Gepunktete, gestreifte oder geblümte Stoffballen aus Viscose, Polyester, Baum- oder Schafswolle stapeln sich in den Holzregalen, die der ohnehin schon bescheidenen Ladenfläche noch etwas mehr Platz nehmen. Hinter dem Tresen steht eine Frau, keine 1,60 Meter gross und mit einem herzlichen Lachen, das nicht einmal die Maske verbergen kann. Ulla Sturzenegger, Enkelin der verstorbenen Geschäftsgründerin, schneidet der Kundin einen halben Meter eines gelben Stoffes ab. In diesen Tagen tut sie das öfter als üblich: Die Ware ist stark reduziert, denn am 18. Dezember schliesst das Rheinecker Traditionsgeschäft für immer.Nachhaltigkeit in der Nähstube«Nein, ich bin nicht wehmütig», sagt die Inhaberin wenig spä­ter im Nähatelier im hinteren Bereich des Ladens, «aber ich bin extrem dankbar für die vielen grossartigen Begegnungen mit meiner Stammkundschaft.» Manche Kundinnen hätten ihr in den letzten Tagen sogar einen Besuch abgestattet. Nicht der Prozente wegen, sondern um sie mit Blumen, Karten oder Pralinés in die Pension zu verabschieden. Ulla Sturzenegger, gelernte Schneiderin und als junge Frau bei Bernina tätig, begann 1981 im Betrieb der Grossmutter zu arbeiten und übernahm ihn nur fünf Jahre später. Noch länger im Geschäft ist ihre Mutter Theresia Pfranger: 1968 ist die inzwischen 87-Jährige eingestiegen und nähte bis heute täglich Vorhänge im Restenstübli. «Es ist ein gutes Gefühl, etwas zu tun zu haben», begründet die gelernte Wäscheschneiderin die Arbeit über das Pensionsalter hinaus.Seit den 1980er-Jahren habe sich in der Branche viel getan. Zuerst hätten grosse Lagerverkäufe den kleinen Playern das Geschäft erschwert, und als sich die Nullerjahre dem Ende zuneigten, boomte der Onlinehandel mit Stoffen und Mercerieprodukten. Früh entschloss sich Sturzenegger deshalb, sich ne­ben dem Verkauf auch auf Änderungsarbeiten zu konzentrieren. Die Preise habe sie über die Jahre nur moderat erhöht. «Ich war stets weniger Geschäftsfrau und mehr Handwerkerin», sagt die Rheineckerin, die von der Wegwerfmentalität wenig hält. Statt den Reissverschluss einer Kin­derjacke für 20 Franken zu ersetzen, kauften manche aber lieber eine neue beim Discounter. Die Wertschätzung von qualitativ hochwertiger Arbeit liegt der Schneiderin aber am Herzen: «Nachhaltigkeit ist ein Thema, das mich einerseits interessiert, andererseits mit meiner Kundschaft verbindet», sagt sie. Wer einen zehnjährigen Wollmantel neu füttern oder sich die Ell­bogen eines Kaschmirpullis mit Aufnähern verstärken lasse, dem liege wirklich etwas an seiner Kleidung. «Ich glaube, es war genau das, was mir über all die Jahre hinweg die grösste Freude in meinem Beruf war: gute Textilien, die viel genutzt und geschätzt wurden, wieder in ein schönes Produkt zu verwandeln», bilanziert Ulla Sturzenegger zwischen Näh- und Overlockmaschinen, die bald nach Hause gezügelt werden.[caption_left: Grün, Blau oder lieber Lila? Das Mercerie-Sortiment im Rheinecker Fachgeschäft war trotz kleinster Verkaufsfläche umfangreich. (Bild: Philipp Knöpfel)]Die Handarbeit prägt von nun an die FreizeitAuch das übrige Inventar verlässt den Laden bis Ende Januar. Mercerien und Stoffhand­lungen aus der Region kaufen einen Teil der Ware auf, der Rest wird Hilfsorganisationen gespendet.Am Samstag, 18. Dezember, um 11.30 Uhr legen die beiden Frauen Nadel und Faden zwar beiseite – allerdings nur geschäftlich: «Für meine Familie nähe ich natürlich weiter. Ganz ohne Zeitdruck, aber mit derselben Freude», sagt Ulla Sturzenegger. Auch ihre Mutter Theresia Pfranger blickt dem späten Ruhestand gelassen entgegen: «Vielleicht bleibt jetzt etwas mehr Zeit zum Häkeln, Stricken und Sticken.» 

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