28.01.2022

Sie hat die nächste Hürde geschafft

Anna Siegmann aus Salmsach ist Springreiterin im nationalen Juniorenkader. In ihrer Sportart ist sie eine Exotin.

Von Sheila Eggmann
aktualisiert am 02.11.2022
Sheila Eggmann5.30 Uhr: aus dem Haus in Salmsach. 7 Uhr: Reittraining mit Theo Muff in Humlikon im Kanton Zürich. 10.45 Uhr: Wechsel in die Sportschule nach Kreuzlingen. 11.30 Uhr: Unterricht. 15 Uhr: heim nach Salmsach. 16 bis 18 Uhr: reiten.So sieht ein normaler Mittwoch im Leben von Anna Siegmann aus. Es ist ihr Lieblingstag. Denn die Unterrichtszeiten in der Sport-Kauffrau-Ausbildung sind kurz, die Zeiten auf dem Rücken eines Pferdes da-für umso länger. Siegmann ist Springreiterin im nationalen Juniorenkader. Ihr Ziel: die Weltspitze. Dafür trainiert sie jeden Tag. Der Weg dorthin ist voller Hürden. Aussergewöhnlich sind im Reitsport die Dimensionen der Ausgaben, die man bereits im Juniorenalter hat. Eine der Hürden, die für die 17-Jährige höher ist als für andere.Siegmann steht im Stall beim Elternhaus in Salmsach, striegelt die Pferde Catch und Vintage und zieht ihnen für das Fotoshooting eine Decke an. Sie führt die Tiere auf die Weide, auf der sie das Shooting über sich ergehen lassen. Sie mögen das Blitzlicht nicht sonderlich. Es scheint, als gehe es ihrer Reiterin ähnlich.Sie kann ihre Pferde nicht einfach austauschenAnna Siegmann ist eine Exotin im Reitzirkus. Ihre meisten Konkurrentinnen und Konkurren-ten wachsen bei einem grossen Reitstall auf oder sind Kinder erfolgreicher Unternehmerinnen oder Unternehmer. Oft tauschen diese ihre Pferde aus, wenn das Zusammenspiel nicht vollständig klappt. Diese Möglichkeit hat und hatte Siegmann nie – aus finanziellen Gründen. Pferde auf Spitzenniveau kosten gerne so viel wie ein Einfamilienhaus.Diese Ausgangslage findet Mutter Martina Siegmann nicht nur schlecht: «Es war ein Vorteil für Anna, dass sie nicht von Anfang an die guten Pferde hatte. Sie hat dadurch viel gelernt.» Der Austausch mit der Konkurrenz führt manchmal zu «kurligen» Situationen. Wenn andere Reiter in Salmsach zu Gast sind, werde Siegmann oft gefragt, wo sie trainiere. «Wir haben keine eigene Halle. Dass ich meine Pferde im Gelände reite, ist für manche undenkbar», sagt sie.Ihr erstes Pferd bildete sie selbst ausDie Salmsacherin absolvierte ihre ersten grösseren Wettkämpfe mit Haya. Das Pferd hatte sie mit elf Jahren erhalten und selbst ausgebildet. Im Jahr 2018 schaffte sie es überraschenderweise mit Haya bis zur Nachwuchs-EM. «Das macht mich besonders stolz», sagt sie. «Ich habe eine tiefe Beziehung zu den Tieren.» Es ist diese Verbindung zum Tier, die sie am Reitsport so fasziniert. «Das findet man in keiner anderen Sportart.»Haya steht heute nicht mehr im Stall in Salmsach. Siegmann musste sie an den Besitzer zurückgeben, da sie den steigenden Anforderungen nicht mehr gerecht wurde. Heute reitet sie vier verschiedene Pferde. Man brauche so viele, wenn man oben mitmischen wolle. In ihrem Besitz ist aber nur eines, Vintage. Catch wiederum ist vom Reitstall von Renate und Werner Hess aus Egnach. Und seit Anfang Jahr kann sich Siegmann einen grossen Traum verwirklichen. Sie darf zwei Pferde von Paul und Imelda Bücheler reiten, auch an Turnieren. Ihnen gehört jenes Gestüt in Romanshorn, von dem auch international erfolgreiche Schweizer Springreiter Pferde unter dem Sattel haben. «Das ist eine andere Liga», sagt Siegmann.Theo Muff ist ein grosses VorbildDer Deal kam für sie überraschend. Der gemeinsame Hufschmied hat die beiden vermittelt. Sie durfte probereiten und habe sofort mit den Pferden harmoniert. Es ist eine grosse Chance für die Nachwuchssportlerin. Ein Pferd dieser Klasse hätte sie sich selbst nicht leisten können.Siegmann sitzt nach dem Shooting am Wohnzimmertisch im Elternhaus. Sie hält ein Notizblatt in der Hand. Darauf mehrmals unterstrichen und mit einem Herzchen garniert: der Name ihres Trainers Theo Muff. Der ehemalige Elitereiter ist eines ihrer grossen Vorbilder. Sie sagt: «Er hat mich einen grossen Schritt weitergebracht.»Ebenfalls einen Platz auf den Notizen und in ihrem Trainingsalltag hat Heidi Notz vom Kavallerieverein Egnach. Bei ihr trainiert sie, seit sie klein war, und tut es noch immer. Besonders wertvoll für Anna Siegmann ist auch ihre Familie: Ihre Mutter fährt sie jeweils mit Auto und Anhänger an die Wettkämpfe, die in ganz Europa stattfinden. Der Vater kümmert sich zusammen mit der Schwester in dieser Zeit um die Hundepension, die sie zu Hause betreiben. «Ich habe ein extremes Glück mit meiner Familie», sagt Siegmann.Das Geld, das ihre Eltern erwirtschaften, landet zu grossen Teilen in der Passion der Tochter. Ein Turnier kostet gerne bis zu 2000 Franken, inbegriffen sind Startgeld, Reise, Hotel, Futter. Bei zwei bis drei Turnieren im Monat kommt ein beträchtlicher Betrag zusammen. Deshalb ist Siegmann auf mehrere kleine Sponsoren angewiesen. Offensiv auf Sponsorensuche gehe sie aber selten. «Wir betteln nicht gerne», sagt sie. Die meisten Deals haben sich durch Gespräche mit Personen aus der Pension ergeben.Anna Siegmanns nächstes grosses Ziel ist die EM im Juli. Dort dürfen die fünf besten Junioren der Schweiz starten. Sie sagt: «Dieses Ziel ist realistisch. Erst recht jetzt, wo ich die beiden neuen Pferde reiten darf.»

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